Unbewegbar

7 3 2
                                    


So einfach ging es. So einfach konnte jemand weiterziehen. Dieses Mal hatten sie zwar Zeit gehabt, Lebewohl zu sagen, aber dennoch war alles in so kurzer Zeit passiert. Und so schnell ... Hatte Boris die Bandbreite verstanden, was das Auftauchen seiner Mutter hier in der Leb-Bar bedeutete? Was hatte Boris' Mutter nach all der Zeit doch hierhergetrieben? Hatte sie Zeit gehabt, das zu verarbeiten? Warum war sie nicht gleich weitergezogen, ohne Zwischenhalt hier? Zu viele Fragen, auf die sie nun keine Antwort mehr bekommen würde. Siobhan schlurfte ins Badezimmer, ignorierte Dir und Kri. Die Kriegerprinzessin forderte sie zu einem Zweikampfheraus. Sie marschierte weiter. Dir waberte um sie und hielt ihr mit den Worten „Essen, Essen" den Löffel mit Eintopf hin. Auch ihn ließ sie links liegen.

Schnurstracks begab sie sich in die leere Badewanne und hockte sich hinein. Das Porzellan kühlte ihren Hintern so stark ab, es kroch ihr in alle Knochen. Siobhan legte ihren Kopf auf den Knien ab und seufzte. Sie rieb sich über ihr Schienbein, über den Knubbel, der nun nicht mehr da war. Sie rieb sich über ihr Daumengelenk, auch das nun um einen Knubbel ärmer. „Weil Boris nicht mehr da ist und seine Mutter nur so kurz bei uns war", sinnierte sie.

Der Stoff ihrer Hose rieb ihre Stirn auf, dann ihre Wange. Sie bewegte sich nicht. Ihre Zehen wurden taub, ihre Zähne klapperten und sie bewegte sich nicht. Die Tür ging auf und zu. Schatten verdüsterten den Raum. Geschirr klirrte. Es roch nach dem würzigen Eintopf. Sie bewegte sich nicht. Kri brachte ihr ihr Schwert. Sie bewegte sich nicht. Kri warf ihr einen Handschuh hin. Sie bewegte sich nicht.

Sie bewegte sich auch nicht, als Kri den Handschuh wieder aufhob und sich stattdessen neben sie setzte. Auch als Dir dazustieß, bewegte sie sich immer noch nicht. Der Stoff raute ihre Wange auf, es brannte und ziepte. Aber sie bewegte sich nicht.

„Ich habe ein Gefühl in mir, wie ein Wunsch, dass es Siobhan gut geht, aber er tut weh und ich weiß nicht, was ich tun kann?"

„Dir, das ist hilflose Sorge. Ich empfinde ebenso."

Siobhan hörte mehr, dass sie sah, wie Dir die Maske an den Badewannenrand anlegte. Es hallte leise wieder. Vermutlich Kri zog ihre Schwertspitze über den Fliesenboden und in Siobhan zog sich alles zusammen.

„Ich fürchte, ich habe keine andere Wahl", stellte Kri nach einiger Zeit fest.

In dem Moment wackelte das Bad, die Badewanne ruckelte und fiel mitsamt Siobhan um. Auch Dir und Kri konnten sich nicht aufrecht halten.

„Was ist das?", rief Kri, als sie sich an der Badewanne hochzog. Siobhan umklammerte ihre Knie nur enger. Sie wusste es. Natürlich wusste sie es. Auch wenn es schon ewig her war, dass ein so heftiges Beben vorherging.

„Sie kommen."

„Wer ist sie?", fragte Dir. Die Schatten verdunkelten das Bad, schlangen sich um Kris und Siobhans Knöchel und klammerten sich an alles, was sie greifen konnten.

„Neue Gäste", hauchte Siobhan und vergrub ihr Gesicht in der Kuhle zwischen Beinen und Körper. Sie wollte nicht ... Sie konnte nicht, ihnen gegenübertreten und ... Sie konnte nicht das tun, was sie immer tat. Was sie schon für so lange tat. Für viel zu lange. Was half es ihr ein Fels in der Brandung zu sein, wenn sie keinen hatte? Warum war sie damals diesen Handel eingegangen? Warum war niemand geblieben? Warum fiel es allen so leicht, weiterzuziehen?

Kri fluchte: „Himmelherrgott! Dir, geh in die Bar und begrüß, wer auch immer da kommt."

Die Maske lockerte den Griff der Schatten um ihre Knöchel, zögerte aber. „Ich?"

„Ja, du. Ich kann nicht überall zugleich sein und du bist, beim Herren im Himmel, auch um ein Vielfaches netter."

Das schien ihm Energie zu geben. Seine Schatten hüpften und er schwebte aus dem Zimmer mit dem Singsang: „Ich, ich begrüße andere. Ich bin netter, ich darf andere willkommen heißen!"

Sobald er aus der Tür war, stoppte das Wackeln und Rütteln. Die Tür zur Leb-Bar würde nun jeden Moment aufgehen und die neuen Gäste würden eintreten. Siobhan müsste in der Leb-Bar stehen und auf deren Ankunft warten. Wozu?

„Es ist wahrlich eine Enttäuschung, dich so zu erblicken. Doch ich nehme an, unvermeidlich nach Boris' Weggang. Wenn kleine Menschen sterben, ist dies immer ... tragisch. Für andere, jedenfalls. Ich sehe daran nichts absolut Weltzerstörendes, doch ... ich gebe zu, dieser kleine Junge ist auch mir ans Herz gewachsen, das ich nicht habe. Dennoch stimmt mich seine Abwesenheit melancholisch. Ich kann mir nicht ausmalen, wie das für dich sein muss, die du das deine gesamte Existenz schon erleben musst." Kri hielt inne in ihrer Ausführung. Sie stand auf und ritzte weiterhin Linien in den Boden. Siobhan hätte ihr gern gesagt, dass sie das lassen soll. Doch das Kreischen und Brechen der Fliesen übertönte ihre Gedanken. Also blieb sie still.

Sie war eine leere Hülle, die nur Kris Worte aufnahm und die vielen Geschichten ihrer anderen Gäste. War sie schon immer nur eine leere Hülle gewesen, gefüllt von anderen? Wann hatte sie sich selbst verloren?

„Trotz alldem hast du so lange weitergemacht, so viele verlorene Seelen empfangen, bewirtet und begleitet. Das ist durchaus bewundernswert. Was nicht bewundernswert ist, ist dein jetziges Verhalten. Doch wer bin ich zu urteilen? Ich habe zu Lebzeiten Unaussprechliches getan, unter anderem auch so kleine Menschen ermordet, um Rache zu üben. Ich könnte nicht tun, was du hier leistest. Auch weil ich den meisten Angst einjage." Kri kicherte, rammte ihr Schwert in eine Fliese, bis sie glatt durchbrach. Kleine Splitter flogen von der Einstichstelle weg.

Siobhan richtete sich auf. Vielleicht sollte sie es doch stoppen ... Das ging zu weit. „Worauf willst du hinaus, Kri?"

Die Kriegerprinzessin hielt inne, hob ihr Schwert an und ließ die Kling an ihrer Schulter ruhe. „Tatsächlich auf keinen bestimmten Punkt, ich wollte nur eine Reaktion von dir."

Siobhan rappelte sich auf und deutete auf Kris Werk. „Dafür zerstörst du meine Leb-Bar?"

„Lies doch, bevor du urteilst." Kri knickste und verließ das Bad.

Siobhan schaute auf den Boden und tatsächlich hatte Kri nicht wahllos den Boden zerstört. Sie hatte ihn zerstört, weil sie „Weiter oder bleiben?" eingeritzt hatte. Der Punkt des Fragezeichens hatte die Fliese gespalten und war mehr ein Krater.

Was für eine gute Frage: weiter oder bleiben? Hatte sie tatsächlich eine Wahl? Steckte sie nicht fest? Nein, sie könnte immer noch wählen, entweder erneut mit Tod zu verhandeln oder einfach die Leb-Bar zu verlassen und den Lebenswasserfall hinunterzugehen, wenn ihr letzter Gast sie zurückließ. Oder sie blieb.

Alles in ihr kribbelte, ihr Steißbein wurde warm und wärmer. Es juckte und als sie hingriff, zählte sie vier neue Knubbel. Neue Gäste warteten auf sie und Dir hatte sie willkommen geheißen. Sie machte weiter, indem sie blieb.

Siobhan stellte die Badewanne gerade und verließ beschwingt das Zimmer. Ein riesiges Lächeln auf ihren Lippen. 

Bibliothek der SeelenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt