𝟖. - 𝐃𝐢𝐞 𝐁𝐥𝐮𝐦𝐞𝐧𝐟𝐫𝐚𝐮

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„Was hast du jetzt vor zu tun?", fragte Nox, als sie im Schatten eines riesigen Gebäudes standen und zum Blumenladen hinüberblickten. Er leuchtete in braun-grünen Farben zwischen all den Grautönen der Straßen, zog so die Aufmerksamkeit direkt auf sich.

„Ich weiß es nicht." Und das war die Wahrheit. Dieser Ort war ihm zu schade zum Stehlen. Er hatte Anwesen überfallen und als Taschendieb die Portemonnaies der Leute auf dem Markt mitgehen lassen. Er hatte auch Läden sowie Gärtner beraubt und noch andere Dinge getan, bis er das Gefühl hatte, es gäbe nichts, was ihn einschüchtern würde.

Aber diese grüne Ecke hier war wie ein Rettungsanker mitten im Meer, wie Paradies in der Hölle, Frieden zwischen den Tagen des Krieges. Und wenn er etwas mitnahm, etwas stahl, dann war es, als würde er den Frieden zerstören; ihn unvollständig machen. Es schien Riu ein viel schlimmeres Verbrechen als nur Diebstahl.

„Kannst du nicht einfach klauen? Der Alleswisser meinte, du bist ein Dieb. Sei dann doch einmal im Leben nützlich!", trug Tenebris auf seine eigene Art zum Gespräch bei und setzte sich auf seine Hinterpfoten.

„Ich habe ja keine Ahnung, wie Lilien aussehen. Wie soll ich etwas klauen, wo ich nicht einmal weiß, was?", lautete Rius Argument, das eher eine Ausrede war. Er würde unter keinen Umständen preisgeben, dass er diesen Ort heil lassen wollte. Außerdem hatte er wirklich keinen Schimmer, wie die Blumen aussahen.

„Wir klären das vor Ort. Wird schon." Nox' Krallen bohrten sich angespannt in seine Schulter. Riu verzog sein Gesicht und unterdrückte einen Schmerzensschrei. Der Dieb wusste, dass es nicht ihre Absicht gewesen war, im Gegenteil – ihr schien es leid zu tun, dass sie ihre Angespanntheit nach außen zeigte. Sofort lockerte sich ihr Griff und sie starrte entschuldigend gen Boden.

Riu nickte kaum merklich. Er war zu weit gegangen, um nun umzukehren. Zu weit, um jetzt noch Schwäche zu zeigen. Entschlossen wandte er sich dem Laden zu. Der Anblick der kleinen grünen Ecke versetzte ihn immer und immer wieder in Unruhe; zu ungewohnt war sie für seine Augen. In seiner Welt wurden keine Pflanzen verkauft, es kam ihm nun fast schon absurd vor. Aber der Laden strahlte Ruhe aus. Ruhe, die ihm fehlte und die er mehr denn je brauchte. Dies war wie Licht in der Dunkelheit. Und er würde diesem folgen.

Die Tür knarrte leise, als Riu sie öffnete. Es roch nach Wald und Frische. Blumen bedeckten jedes freie Eck der Regale. Sie waren in allen Formen und Farben erhältlich: Rot und Blau, duftig und stinkig, in Sträußen und Töpfen; alle brachten sie Riu um den Verstand. Es war solch eine Vielfalt, dass er unwillkürlich staunte. Klar, in Lornir gab es Blumen – aber längst nicht so viele verschiedene. Wie sollte er nur von all denen die Richtige finden?

„Hallo! Suchen Sie etwas, junger Mann? Kann ich Ihnen behilflich sein?" Überrascht fuhr er herum – hinter der Kasse stand eine Frau mittleren Alters, umhüllt in eine saftiggrüne Schürze. Ihr freundliches, jedoch auch etwas angespanntes Lächeln war bis zu den Ohren gezogen worden; sie schien zu strahlen, doch es wirkte eher wie eine Fassade, hinter der sie sich verbarg. Müdigkeit lag in ihrem Blick verborgen.

„Ich suche Lilien ... ", sagte Riu etwas nervös. Der Dieb war auf alles vorbereitet. Er würde sich die Blumen schnappen und verschwinden, sobald die Frau ihm diese gezeigt hatte. Er würde es schnell machen.

Der pummelige Körper der Frau spannte sich bloß an, als sie endlich die Krähe auf seiner Schulter bemerkte.

„Ich wünschte, ich wäre auch so jung wie Sie, um einmal wieder verrückt und unbesorgt sein zu dürfen." Die Blumenfrau schaute ins Nirgendwo und Riu musste auflachen. Unbesorgt? Was wusste sie denn schon! Er war einsam, arm und obdachlos. Darüber hinaus noch ein Dieb, ein Schrecken. Er war dazu verdammt, von allen gehasst und verabscheut zu werden. Er war Magie! Magie, weil er diese in sich trug. Weil sie zugleich Riu war. Er war ein Monster.

Doch dann spürte Riu etwas. Einen kleinen Faden. Die Gefühle der Blumenfrau, ihre Ängste, Sorgen. Er konnte dies auch ohne eine Berührung, sollten die Empfindungen sehr intensiv sein. Mitleid kroch in ihm hoch und er fragte sich wie er, ein Biest, so etwas wie Mitgefühl empfinden konnte.

„Ihr seid traurig. Ihr seid nicht glücklich." Riu schaute besorgt in ihre Augen. Sie waren genauso grün wie die Farbe ihrer Schürze. Genauso grün wie die Pflanzen um sie herum.

„Mag sein, ja, ich bin erschöpft. Aber wer ist es nicht?" Sie zuckte gleichgültig mit den Schultern. Er wusste, dass es da mehr gab. „Außerdem sollte ich nicht über meine Probleme mit meinen Kunden reden. Suchen Sie sich da lieber die Lilie aus und ..."

„Es tut mir leid, ich habe kein Geld." Es kam ihm leicht von der Zunge. Sofort spürte der Dieb die Blicke der Tiere auf sich.

„Du hast was nicht?" So verwirrt, wie sie war, wechselte die Blumenfrau sofort zu „du".

„Es ist schon okay. Ich habe zwar kein Geld dabei, kann aber meinen Ring anbieten." Riu hatte keinen Schimmer, was er da tat, als er Vaters Schmuckstück von seinem Finger zog; das Einzige, was dem Dieb von ihm geblieben war. „Wisst Ihr, ich wollte nur eine Lilie für einen Freund besorgen. Er wohnt ganz weit weg, dort, wo keine einzige Blüte wächst."

Die Mundwinkel der Frau zuckten in die Höhe. „Für einen Freund? Nun, das ist eine gute Sache! Behalte deinen Ring, ich komme sofort." Sie eilte weg und kam mit einer feuerroten Blume zurück. Diese war wunderschön, hatte riesige Blütenblätter, die sich in alle Richtungen streckten. Die Lilie sah aus wie eine glutrote Sonne. „Hör her. Du willst etwas Gutes für einen anderen tun und ich tue dir auch etwas Gutes, damit jemand vielleicht glücklicher ist, dort ganz weit weg in ... wo denn genau?" Die Frau lächelte müde, während sie Riu die Blume überreichte.

„In einer anderen Welt."

„In der anderen Welt, genau." Sie strahlte beinahe, aber er wusste nicht, ob sie ihm glaubte.

Auf dieser Kugel sind ja alle richtig durchgeknallt, dachte Riu kopfschüttelnd, als er den Laden mit der roten Lilie in der Hand verließ.

𝐃𝐢𝐞 𝐍𝐚̈𝐜𝐡𝐭𝐞 𝐯𝐨𝐧 𝐒𝐨𝐦𝐧𝐢𝐚Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt