𝟏𝟓. - 𝐃𝐢𝐞 𝐒𝐭𝐢𝐦𝐦𝐞 𝐢𝐧 𝐝𝐞𝐫 𝐍𝐚𝐜𝐡𝐭

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„Bevor es wieder dunkel wird, muss ich mit dir reden, Riu." Die Stimme der Krähe war zwar sanft, aber es war deutlich etwas Stahlhartes darin zu hören. Sie redete erst seit diesem Tage so und Riu war klar, dass es etwas mit ihrem Verlust zu tun hatte. „Tenebris, lässt du uns bitte alleine?"

Der Panther nickte gelangweilt. „Eure Gespräche sind eh immer todlangweilig." Dann verschwand er augenblicklich, wagte es nicht, der Krähe zu widersprechen. So frech er auch war – auch er empfand Mitleid dem Vogel gegenüber und versuchte es ausnahmsweise mal mit dem Nettsein. Dennoch hieß es noch lange nicht, dass er auf Belauschen verzichten würde.

„Ist irgendetwas?" Angespannt ging Riu vor Nox auf die Knie, um mit ihr auf einer Augenhöhe zu sein. Fast ertrank der junge Mann in ihrem Blick, denn er war viel- und nichtssagend zugleich. Es waren die komischsten Augen der Welt. Darin schien ein ganzes Universum zu stecken.

„Ich wollte mich bei dir entschuldigen, Menschenjunge", sagte sie. Riu riss überrascht die Lider auf. „Du weißt doch noch, was der Allwissende zu uns gesagt hat, bevor Tenebris aufgetaucht ist?"

„Er hat ... vieles gesagt." Riu tat auf unwissend, kratzte sich scheinbar nachdenklich am Hinterkopf. Der Dieb hatte gerade nur die halbe Wahrheit erläutert. Er wusste, worauf die Krähe hinaus wollte, denn es gab nur einen Satz, der für sie beide im Moment eine Rolle spielte, der aber bisher nie zum Gesprächsthema geworden war.

Hm, wie interessant! Nox, die Vertraute der Hexe, und Riu, der Dieb, der nie gemordet hat, wollen beide voneinander profitieren und sich dann fallen lassen! Die Worte spielten sich immer und immer wieder in seinem Kopf ab. Sie wiederholten sich, manche verschwanden, andere wurden dynamischer, lauter zu vernehmen. Aber er hatte sie nie vergessen. Er hatte es sich nicht leisten können.

„Er hat gesagt, dass wir vorhaben, einander zu verraten, sobald wir haben, was wir wollen. Ich habe viel darüber nachgedacht", sagte die Krähe.

„Na und, was ist damit? Vertraust du etwa der Bestie? Man kann doch nie wissen, ob es stimmt, was sie gemeint hat!" Schweißperlen rollten Riu über die Stirn. Alles würde er nun dafür geben, um das Thema wieder abzuschließen. Er hasste es, zu lügen, die Wahrheit zu verschweigen. Genau dies war eines der Dinge, das ihn zum Verräter machte. Verräter, dachte Riu, es gibt wohl kein Wort, das grässlicher ist.

„Nein. Der Allwissende lügt nicht. Es ist das Einzige, was er nicht in der Lage ist, zu tun. Er kann Sachen außen vor lassen, aber auch nicht mehr als das." Sie machte eine kleine Pause, als würde sie darauf warten, dass er ebenfalls etwas sagte, etwas zugab. Doch es war dem nicht so. Die Krähe sprach zögerlich weiter. „Ich möchte mich dafür entschuldigen, dass ich dich für meine Zwecke benutzen wollte. Weißt du, damals waren weder meine Krallen, noch Tenebris' Pfoten in der Lage, das Fläschchen mit dem Teleportationstrank zu öffnen. Da dachte ich, ich nutze die Gelegenheit, die uns quasi in die Arme gelaufen ist. Danach war mir egal, was mit dir passiert. Du musst mich verstehen, ich wollte zu Dhara! Und es war mir dabei gleichgültig, ob du bei deiner ersten Teleportation umkommen würdest oder dich der Alleswisser auffressen würde. Ich habe geglaubt, dass es sogar besser sein würde, dich loszuwerden. Ich bereue es, dass ich so gedacht habe, ehrlich. Denn nach allem, was wir gemeinsam erlebt haben, bist du ein unmittelbarer Teil von uns geworden."

Riu hatte später keine Ahnung mehr, was er der Krähe geantwortet hatte. Denn in dem Moment war er in Wirklichkeit damit beschäftigt, seine Tränen zurückzuhalten. Tenebris und Nox vertrauten ihm. Aber er war nicht in der Lage, ihnen die Wahrheit zu sagen; war nicht in der Lage, ihnen die Ehrlichkeit zu geben, die sie verdienten. Nun wünschte er sich nichts sehnlicher als einen Ausweg, um niemandem das Leben nehmen zu müssen.

Er wurde zwar fälschlicherweise für Mord beschuldigt, doch wollte er kaum zu dem werden, was die anderen in ihm sahen. Er war kein Mörder.

✩☾✩

Die Nacht kam so plötzlich wie das letzte Mal. Doch diesmal war sie anders, unterschied sich so sehr, dass Riu das Gefühl nicht loswurde, es wäre nicht Somnia, sondern eine andere Welt. Während letztens der Himmel frei war vom Licht des Mondes oder der Sonne, wurde er nun von allen beiden in Gefangenschaft genommen. Er zerteilte sich in zwei, wobei einer so hell war wie der Tag und der andere so dunkel wie die Nacht selbst. Bäume gab es zum Glück fast gar nicht und die wenigen, die vorhanden waren, schienen zu Rius Erleichterung ganz gewöhnlich zu sein; nicht lebendig.

Glühwürmchen schwebten über dem Gras, erhellten ein wenig die Umgebung. Riu liebte diese Insekten, doch erweckten sie in ihm traurige Erinnerungen. Nachts, während alle geschlafen hatten, waren er und sein Vater oft unterwegs gewesen, hatten diese leuchtenden Punkte beobachtet, die so amüsant hin und her schwebten. Als sein Vater ihn jedoch allein gelassen hatte, waren die Glühwürmchen mit ihm gestorben, genauso wie der Frühlingsanfang, die Pfützen, die Zeit, wo er die Rosinen aus den Brötchen immer zuerst gegessen hatte. Ab da hatte er nämlich genug zu tun gehabt, als sich da noch Insekten anzuschauen oder gar das Frühjahr zu genießen. Für das Toben durch die Pfützen war er einfach zu groß geworden und die Brötchen hatte der Dieb sich nicht leisten können. Aber auch, wenn er mal eins stahl, hatte er so einen Hunger gehabt, dass ihm die Rosinen stets egal gewesen waren.

„Ist bei euch auch alles zu perfekt? Sieht eher nach Tag aus als nach Nacht." Tenebris schmiegte sich an Rius Beine und sofort verspürte dieser die Wärme des Katers und das sogar durch den Stoff seiner Hose.

„Diese Welt ist wie ein einziger großer Organismus und sie hat Verstand. Da es letztes Mal nichts mit Gruseln und Töten wurde, versucht sie es nun mit den harmlosen Träumen und Utopien. Das zu überleben wird aber deutlich schwieriger sein. Sie werden uns anziehen und versuchen, uns aus dem scheinbaren Wahnsinn zu locken, aber werden in Wahrheit selbst das Ende sein. Wir dürfen uns nicht verwirren lassen", erklärte die Krähe. Da sie nun schutzlos ohne Flügel war, hatte der Dieb sie auf seine Schulter gesetzt, wo sie zumindest zum Teil das Gefühl haben konnte, sich in der Höhe zu befinden.

Riu beäugte nochmal die Umgebung, bis sein fieberhafter Blick auf den Gebäuden am Horizont verharrte. Sie waren hoch und breit wie Schlösser und ganz kurz erlaubte sich der junge Mann den Gedanken, dass dort ganz vielleicht Menschen lebten; dass das alles echt war.

Hier sind deine eigenen Sinne der größte Feind!, erinnerte sich Riu an die Worte des Panthers. Er lachte in sich hinein, wandte sich von dem Spektakel ab, das sich in der Ferne vorführte. Es war keine Zeit für dumme Spielchen. Klar, er war hier der Bauer, und doch – die Gegner mussten sich etwas Schlaueres überlegen, um ihn vom Spielbrett zu stoßen. Aber er war nicht daran gewöhnt, an Utopien zu glauben; er war kein Narr.

Doch wie auf Befehl war da plötzlich ein Ruf, der alle anderen Geräusche in seinen Ohren verschwinden ließ. Jemand rief nach ihm! Bei der großen Göttin, er kannte diese Stimme!

Riu sprintete den Rufen nach, nahm nur ganz nebenbei wahr, wie die Tiere ihn panisch fragten, was denn los sei. Doch nicht einmal, als er ankam, vermochte er es, ihnen zu antworten.

Vor ihm stand sein Vater.

𝐃𝐢𝐞 𝐍𝐚̈𝐜𝐡𝐭𝐞 𝐯𝐨𝐧 𝐒𝐨𝐦𝐧𝐢𝐚Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt