𝟏𝟔. - 𝐙𝐮𝐜𝐤𝐞𝐫𝐟𝐫𝐞𝐢𝐞𝐫 𝐓𝐞𝐞

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„Riu! Menschenjunge! Wach auf, du, was geht hier vor sich? Sag doch etwas!", jammerte jemand ganz nah an seinem Ohr. Aber Riu wusste nicht, was es war. Er wusste gar nichts, schien alles auf einen Schlag vergessen zu haben. Sein Blick wurde immer härter, gleichgültiger und sein Körper so unbeweglich wie ein alter, buckliger Baum.

Etwas ganz Warmes spürte er an seinem Bein. Es rieb sich behutsam an seiner Haut, klammerte sich ängstlich an ihn, als wäre er das Letzte, was auf der Welt geblieben war; das Letzte, was man verlieren wollte. „Bitte geh nicht, Riu. Bitte, bleib bei uns", sagte dieses vertraute und doch fremde Etwas. Und wiederholte sich. „Geh nicht." Doch er konnte nicht widerstehen.

Der erste Schritt ließ ihn vergessen, wo er war.

Der zweite schlug ihm seinen eigenen Namen aus dem Gedächtnis.

Dann tat er den dritten Schritt, überwand den letzten Abstand zwischen ihm und seinem Vater. Er war echt. Er war hier. Nur noch der letzte Hauch an Verstand rührte sich. Doch die Versuchung war einfach zu groß.

„Noch ein bisschen, mein Junge. Nur noch ein ganz kleiner Schritt und du kannst für immer bei mir bleiben. Du musst mir nur deine Hand geben und ich nehme dir all deine Sorgen. Ab da werde ich für ewig bei dir bleiben, dich nie wieder verlassen. Du hast mein Wort, Sohn." Die Worte waren so feierlich, laut und klar, dass man sie beim besten Willen nicht überhören könnte, egal, wie sehr man sich auch bemühen würde. Sie erinnerten ihn unwillkürlich an etwas, was er schon mal gekannt hatte. Was war es denn nur gewesen? Er dachte nach, strengte sich an.

Ein Schwur! Es musste der ewige Schwur sein, an den ihn diese Worte erinnerten. Sie klangen genauso. Sinnlos, aber mit Sinn. Stumm, aber schreiend. Und sie brachten ihn zum Nachdenken. Er wollte sich erinnern, hier und jetzt; wollte alle großen Entscheidungen mit klarem Kopf treffen. Und doch ... Es war so verdammt schwer!

Der blonde Mann, sein Vater, streckte ihm währenddessen seine Hand entgegen. Riu war nicht in der Lage, dessen Aussehen zu beschreiben. Ihm fehlten buchstäblich die Worte, die einer nach dem anderen aus seinem Kopf wichen. Da war nur Glück. Glück, dass er bei ihm war, aber ... war es überhaupt echt, was er fühlte? Oder war das Glück nichts weiter als eine Lüge? Lüge ...! Riu musste erfahren, ob das alles nur eine Lüge war!

Langsam, aber ihm kam eine Erinnerung.

Der Allwissende lügt nicht. Es ist das Einzige, was er nicht in der Lage ist, zu tun. Er kann Sachen außen vor lassen, aber auch nicht mehr als das.

Der Allwissende ... Wer war das? Ewig ... Stimmt, das musste es sein! Der Allwissende war ewig! Genauso wie das Versprechen seines Vaters eben – Ab da werde ich für ewig bei dir bleiben. Und der Schwur war es ebenso! Aber wenn der ewige Allwissende nicht lügen konnte und der ewige magische Schwur ebenfalls nicht, dann musste es die Person vor ihm, wenn sie tatsächlich nicht sein Vater war, genauso wenig können!

Das hieß doch, dass Riu selbst an die Wahrheit kommen könnte, sollte er es sich nur sehnlichst wünschen! Dennoch ... wollte er sich überhaupt damit auseinandersetzen? Und vor allem jetzt, wo er glücklicher nicht hätte sein können? Riu zweifelte. Aber das Etwas an seiner Schulter und das andere Etwas am Bein erleichterten ihm die Entscheidung; nahmen ihm diese fast gänzlich ab. „Bitte, geh nicht, Riu" ... „Bitte, bleib bei uns."

„Wie viel Zucker tue ich in meinen Tee?", fragte Riu schließlich. Seine Lippen fühlten sich so schwer an wie Blei, die Stimme zitterte, während er sprach. Sogar die Luft um ihn herum wurde mit einem Mal dichter, erschwerte einem deutlich das Atmen, sodass er gezwungen war, ab und an wie ein Fisch nach Sauerstoff zu schnappen. Alles fühlte sich an wie eine billige Fälschung des Lebens.

„Er ist verrückt geworden", lautete die Diagnose des Etwas auf seiner Schulter. Er ignorierte dies jedoch. Es war ja auch klar, wunderte ihn keinesfalls, dass man seine Frage nicht anders deuten konnte.

„Ich frage dich, Vater! Du musst es wissen", hakte er nach. Sein Vater sah ihn ausdruckslos an. „Warum, Sohn? Warum stellst du mir diese Frage? Reiche ich allein nicht aus, um dich glücklich zu machen?!"

Der Dieb lachte nur, tauschte die Treue in seinem Blick gegen Verachtung; und das nur dafür, um seine wahren Emotionen zu verbergen. Da war Schmerz. Unerträglicher innerer Schmerz, der ihn zu ersticken drohte. Doch gleichzeitig brachte ihm derselbe die Erinnerungen zurück.

„Du weißt es nicht", sagte Riu leise, ließ von dem Mann vor ihm ab, da dieser nicht mehr in seinem Interesse war – wie eine Buchseite, welche man längst umgeblättert und zwischen all den anderen vergessen hatte.

„Was habe ich falsch gemacht, mein Sohn? Glaubst du mir etwa nicht? Sieh mich genauer an! Ich bin's, dein Vater!" Die Illusion seines Vaters packte ihn an seiner Schulter. Dessen Griff war eisern und fest; die Finger bohrten sich in seine Haut viel schmerzhafter als es die Klauen Nox' je getan hatten.

„Nur ein törichter Bursche glaubt einem Mann, dessen ganze Existenz eine Lüge ist", zischte der Dieb. „Verschwinde. Du bist nicht mein Vater."

Von seinen eigenen Worten erwischt, hielt der junge Mann inne. Du bist nicht meine Gesellin!, hatte die Krähe dem Allwissenden gesagt, als dieser sich in deren Haut befunden hatte. Die Krähe hatte es sofort erkannt ... Aber er, der schlaue Dieb, hatte sich heute abermals um den Finger wickeln lassen; sich täuschen lassen wie ein kleines naives Kind.

Mehr hörte Riu seinen Vater nicht, denn schon nach kurzer Zeit hatten sie diesen weit hinter sich gelassen.

„Ich will nicht nochmal nachhaken, was gerade eben passiert ist, nur bin ich neugierig geworden ... Wie viel Zucker legst du denn jetzt in deinen Tee?", fragte die Vernünftigste. Riu schnaubte verärgert, da er nicht vorgehabt hatte, sich an das Gespräch zurückzuerinnern. Seine Finger erblassten, als er die Nägel in seine Handfläche bohrte. Doch der Schmerz störte ihn nicht im Geringsten, im Gegenteil - er erinnerte ihn daran, dass er noch am Leben war.

„Gar keinen. Ich trinke keinen Tee mit Zucker." Daraufhin redeten sie lange nicht miteinander. Riu – weil er sich schlecht dabei fühlte, Schwäche gezeigt zu haben. Die beiden anderen, weil sie spüren mussten, was in ihm vorging.

𝐃𝐢𝐞 𝐍𝐚̈𝐜𝐡𝐭𝐞 𝐯𝐨𝐧 𝐒𝐨𝐦𝐧𝐢𝐚Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt