𝟏𝟐. - 𝐃𝐢𝐞 𝐍𝐚𝐜𝐡𝐭

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Als die Nacht vollständig ihren Schleier über die Welt gelegt hatte, versank Rius Welt binnen Sekunden in Chaos. Die Farben wurden unklarer, verschwommener; nur ab und an verschärfte sich seine Sicht. Die Töne explodierten heller denn je, verschwanden aber wieder nach und nach, als hätte sie jemand ausradiert.
Er stolperte vorwärts und knallte gegen etwas Großes und Hartes, was sich nur wenig später als Baumstamm entpuppte. War es denn am Tag nicht gerade noch eben gewesen? Doch die Welt schien nun eine andere zu sein als die, die sie bei Tageslicht gewesen war.

„Seid ihr noch da? Tenebris? Nox?" Er hoffte, dass sie ihn hören würden, denn die Vielfalt an unheimlichen Geräuschen brachte den Dieb um den Verstand. Wie es wohl bei den anderen war, wenn doch die Sinne bei Tieren verschärfter sein mussten?

„Der Himmel." Nox hatte noch nie so eingeschüchtert und frustriert geklungen.

„Was ist damit?" Riu legte das Haupt in den Nacken und beäugte mit zusammengekniffenen Augen den Äther. Die Färbung dessen ließ sich nicht klar deuten. Aber es war ein Rotton. Der junge Mann hasste diese Farbe, da sie ihn immer und immer wieder an Blut erinnerte. An Drazhans Wunde, obwohl er diese beim trüben Licht nicht einmal hatte richtig erkennen können. Aber er hasste diese Farbe.

„Ist schwarz", beendete Nox ihren Satz. „Er ist schwarz. Einfach so."

„Nein. Er ist rötlich", widersprach der Dieb. „Er ist ganz sicher rö..." Er verstummte, als sich die Farbpalette des Himmels abermals änderte. Die Töne flossen ineinander wie ungezähmte Wasserfarbe. „Jetzt ist er aber gelb-blau. Verstehe ich nicht." Er kratzte sich verlegen an seinem Nacken und fuhr sich durch das mittelblonde Haar.

„Sag mal, ändert er sich bei dir durchgehend? Nun, bei mir ist er immer noch schwarz ..." Nox lachte verzweifelt auf, doch ihre Stimme brach. „Wir müssen los; Tenebris höre ich nicht mehr – er muss also schon gegangen sein."

Oder gestorben, fügte Riu gedanklich hinzu. Trotzdem musste er zugeben, dass er Somnia überschätzt hatte. Wo waren nun die Gefahren? Die Hindernisse? Er schaute sich um, konnte aber kaum etwas erkennen. Die Sicht wurde dennoch immer klarer – seine Augen gewöhnten sich mit der Zeit an die Dunkelheit.

„Unterschätze die Finsternis nicht, Menschenjunge. Sie lauern dort. Sie brauchen bloß Zeit, um dich aufzuspüren", warnte die Krähe, als hätte sie seine Gedanken gelesen; als hätte sie für einen kurzen Moment Rius Gabe übernommen. Ein Luftzug peitschte dem jungen Mann ins Gesicht, worauf er instinktiv die Lider aufeinanderpresste.

Dann verschwand Nox. Alles, was blieb, war die plötzliche Stille.

✩𓃠✩

Tenebris stürzte sich benommen den Berg hinab. In seiner Somnia waren solche Berge überall, wuchsen auf seinem Weg wie Hindernisse.

Diese Stimmen ..., dachte er, ...diese verfluchten Stimmen sollen verschwinden!

Wie so oft, holte ihn der Drang ein, sich klein und unbemerkbar zu machen; sogar bittere, beschämende Tränen zu vergießen.
Er scheiterte bei dem Versuch, stark zu bleiben. Scheiterte bei dem Versuch, ein Krieger zu sein. Vielleicht war er ja gar keiner? Vielleicht hatten die anderen ja Recht? Vielleicht war er der Dumme, der Lächerliche? Schon bei der Vorstellung davon sank er in sich zusammen.

„Bleib stehen, du Unheil! Wir werden Lornir reinwaschen!"

„Sterbe im Namen der großen Göttin!"

Die Menschen. Das konnten nur sie sein. Er hasste sie mit allem, was er war. Er hasste sie, denn seine Seele hatte keinen Platz für mehr als einen herben Hass, der ihn von innen aus zerstörte.

Was ist das? Warum ist das hier? Wie komme ich hier weg?
Obwohl er vollkommen im Dunkeln sehen konnte, war der Panther nun nicht in der Lage, viel mehr als einen riesigen dunklen Klotz zu erkennen. Er sah aus wie ein Fels; war riesig und erstreckte sich weit mehr in die Höhe, als Tenebris erblicken konnte. Und sie kamen immer näher. Aber es waren keine Menschen.

Zunehmende, endlose Angst ließ ihn nicht mehr klar denken; ließ seine Pfoten zittern im Takt der bebenden Erde, die das Nähern der Bestien ankündigte.

„Aber wir sind eins! Ich bin wie ihr!", schrie Tenebris mit der letzten Mut, die er stückweise ergattern konnte.

„Du warst noch nie so wie wir! Du bist nichts anderes als eine stinkende, schwache Katze!"

Er wollte protestieren, fluchen, wie er es immer tat. Aber ihn hielt die Erkenntnis zurück, dass das die Wahrheit war. Er hatte das Szenario oft ähnlich in seinen Träumen gesehen. Hätte er denn Lügen träumen können?

Die Panther kamen immer näher, verdeckten gänzlich den Raum mit ihrer unübertroffenen Aura. Sie strahlten heller als die unzähligen Sterne auf der Kugel; schienen zu leuchten, aber ihr Inneres war dunkler als die tiefste Schwärze der Nacht. Ihre Augen waren leere, reinweiße Augäpfel.
Tenebris überlegte fieberhaft, nahm währenddessen Notiz von der Größe jeder einzelnen Großkatze. Er konnte aufgeben, sich selbst und auch sein Leben. Oder er kämpfte trotz der Furcht weiter, wuchs hinaus aus dem, was er bisher gewesen war. Der kleine Panther hatte die freie Wahl. Und er wusste, dass er die Seite des Lebens wählen würde.

Tenebris schmiss sich auf das Antlitz eines der Panther, vergrub darin seine Krallen. Dieser heulte auf vor Schmerz, schlug um sich und winselte wie ein verletztes, jammerndes Etwas.

„Ich bin aber weitaus mehr, als ihr von mir zu erwarten scheint!", fauchte er in das Ohr des Artgenossen, ehe er es kaltblütig zerriss. Schwarzes, dunkles Blut quoll aus der Wunde und tropfte hörbar auf das Gestein, das die ganze Erde bedeckte.

Tenebris floh, noch bevor die anderen Monster zu sich kommen und ihm folgen konnten.

✩𓅂✩

Der Himmel war schwarz. Warum war er denn schwarz?

Nox kannte ihn dabei ja ganz verschieden. Manchmal war er klar und blau, wolkenlos und hell. Manchmal rieselte Wasser hinab oder in der Kaltzeit Flocken. Sie hatte auch gesehen, wie hier und da Blitze den Äther erhellten, hatte gesehen, wie Naturgewalten die Macht über ihn ergatterten.

Aber jetzt war er dunkel. So dunkel, dass sie nicht einmal ihren eigenen Flügel vor dem Schnabel erkennen würde, sollte sie sich nur in die Luft erheben! Dabei liebte sie das Fliegel, liebte die unglaublichen Weiten.

An einem der langen Tage – daran erinnerte sie sich noch ganz genau – hatte sie ihn ganz für sich allein erobert. Seitdem waren er und sie, Himmel und Vogel, unzertrennlich geblieben. Er hatte sie immer willkommen geheißen. Aber jetzt gab es keine stumme Einladung wie stets zuvor.

Nox' Herz setzte einen Schlag aus, als sie ein leises Zischen vernahm. Was war das denn gerade eben? Bald wusste sie die Antwort, denn keinen Flügelschlag später erkannte sie, wie ein kleines Tier mit glänzenden, kleinen Knopfaugen auf sie zulief. Ein Vexir.

Die Krähe erstarrte. Nur keine Panik, dachte sie, er wird mir nichts antun, wenn ich keine Angst zeige. Aber wie sollte sie das erreichen? Wie sollte sie ruhig bleiben, wenn sich alles in dieser seltsamen Nacht gegen sie verschworen hatte?!

Der Vexir spitzte vorfreudig ein Ohr, das andere war um 180 Grad nach hinten gedreht worden. So konnte das Tierchen auch das leiseste Geräusch von überall her hören. Sein Körper war länglich, spitze Zähne ragten aus seinem Mund, Spucke tropfte hinaus. Letztere war grün, ergab einen Kontrast zu der reinweißen Fellfarbe der Bestie. Ordentliche, gräuliche Flügen hielt der Vexir gefalten.

Ich muss hier weg. Nur wie? Zu Fuß? Nein, zu langsam! Aber fliegend würde ich mich ja in dieser Finsternis verirren!

Sie hatte sich schnell zu entscheiden, denn ihre Panik nahm nun allmählich auch der Vexir wahr und tappte auf sie zu.
Sie würde zu langsam zu Fuß sein. Das Tier würde sie einholen und lähmen. Er würde sie töten. Wenn sie flog, hatte sie noch eine Chance, dass der Gegner sie aus den Augen ließ.

Der Vogel breitete seine Flügel aus und flog. Der Vexir reagierte schneller als gedacht.

Federn und Fellfetzen flogen durch die Luft. Sie kämpften, aber keiner gewann.

Eine Leiche und ein Vogel stürzten zu Boden. Der Letztere hatte seine Flügel verloren.

𝐃𝐢𝐞 𝐍𝐚̈𝐜𝐡𝐭𝐞 𝐯𝐨𝐧 𝐒𝐨𝐦𝐧𝐢𝐚Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt