𝟏𝟖. - 𝐔𝐧𝐞𝐫𝐰𝐚𝐫𝐭𝐞𝐭

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Hustend und keuchend wie ein verletztes Tier, schreckte er hoch. Sein Blick glitt panisch umher, bis er sich mit dem des Panthers verhakte. Aus dem Augenwinkel bemerkte Riu ebenso Nox und die Hexe, atmete erleichtert aus, nahm die Ruhe wahr, die so plötzlich sein Inneres übernommen hatte. Sein Körper, sein Geist – alles fühlte sich zu gut an für einen Ort wie diesen; dafür, dass er hier in Somnia war, fühlte er sich zu gut. Als wäre es in Wahrheit eine Falle oder seine eigenen Einbildungen, aber niemals die Wirklichkeit. War es ein Trick Somnias oder war er vielleicht schon tot?

„Endlich bist du wach, du zerbrechliches Menschending!" Okay, falls es wirklich eine Illusion war, dann war sie übertrieben Tenebris-echt. Aber vielleicht war es ja gar keine? Oder hatte Somnia aus ihren Fehlern gelernt und neue, deutlich klügere Klone geschaffen? Riu war unschlüssig, seine Gedanken von Zweifeln umwoben.

„Wir waren hier vor lauter Sorge am Rande der Verzweiflung gewesen!", sprach Nox und reckte sich genüsslich, entfaltete ihre Flügel. Riu entwich ein erstauntes Keuchen. Und doch war es keine Einbildung, denn die Krähe hatte ihre Flügel tatsächlich wieder! Sie schimmerten und strahlten im fahlen Licht des Mondes und der Sonne, die sich noch immer den Himmel teilten.

Der Dieb richtete sich auf, seine Augen heimlich auf die Hexe gerichtet, während Tenebris und Nox sich auf seine Knie warfen und ihn zu umarmen versuchten. Ihre Berührungen erfüllten ihn mit noch mehr Wohlgefühl; sie teilten ihre Freude mit ihm, sogar bewusst und absichtlich. Die Tiere schienen ihm für die Rettung Dharas dankbar zu sein. Diese saß auf dem Stück Land, das vor kurzem noch wie eine leblose Wüste ausgesehen hatte, jetzt aber mit Gräsern und Blumen bedeckt war.

Die junge Frau hatte seltsame helle Augen und im Kontrast dazu dunkle, gewellte Strähnen, die über ihre Stirn und ihre Schultern fielen; sie besaß weibliche, aber gewöhnliche Gesichtszüge. Riu würde nicht sagen, dass sie hübsch war, würde jedoch auch nicht behaupten, sie sei hässlich.

Doch, da war noch etwas ... Nein, es war nichts Äußeres, nichts Oberflächliches. Es waren die intensiven Gefühle der Hexe ihm gegenüber. Er bemerkte, wie sie zu ihm schielte, bemerkte ihre Gedanken, die sich in diesem Blick widerspiegelten. Es war Vorsicht ... sehr, sehr große Vorsicht, die jedoch nichts mit Respekt und Anerkennung zu tun hatte. Sie traut mir nicht. Doch wieso war es so? Was hatte er nur falsch gemacht, außer versucht, sie zu retten? Oder hing das nicht mit ihm zusammen?

Riu kramte in seinem Kopf, suchte nach Antworten. Was könnte eine Verstoßene, die am Dorfrande lebte und mit Kapuze rumlief, nicht mögen? Die Erklärung lag auf der Hand. Menschen.

„Danke", flüsterte Dhara trotzdem, als sie sah, dass er ihr seine Aufmerksamkeit schenkte. Das Wort klang falsch gepaart mit ihrem Blick voller verborgener Vorsicht. Der Dieb nickte freundlich, doch schmerzte sein Herz. Er wurde gehasst, gejagt, verabscheut, da er stahl. Wurde früher einmal geliebt. Wurde toleriert von Nox und jetzt auch noch von Tenebris. Aber noch nie wurde ihm misstraut.

„Ich hatte einen Heiltrank dabei, habe meine Nox und dich geheilt. Aber ich verfluche dich, solltest du mir oder meinen Vertrauten etwas antun", fügte die Hexe drohend hinzu. Irgendetwas sagte ihm, dass das mit dem Verfluchen buchstäblich gemeint war.

„Liebste Gesellin, Riu ist harmlos. Er hat uns her geholfen", nahm ihn die Krähe in Schutz und Dhara schenkte ihr einen liebevollen Blick, dennoch ließ sie die Aussage unbeantwortet.

Riu reagierte ebenso nicht, da ihn andere Überlegungen eroberten. Sie hatten überlebt.

Doch schlagartig wurde es hell. Der Himmel wurde dies, reinweiß wie eine leere Leinwand. Die Farbe blendete den Dieb so sehr, dass er sich lange an die Helligkeit gewöhnen musste. Der Boden wurde ebenfalls hell. Alles war wie in Dharas Kopf vor kurzer Zeit und auch die Ruhe in ihm verschwand augenblicklich, Ängste krochen hoch.

„Somnia ist zornig", wisperte die Hexe. „Sie wollte nicht, dass einer von uns beiden überlebt." Es klang wie das endgültige Ende. Tenebris fluchte.

„Aber Gesellin ..." Nox flog unsicher auf ihre Schulter hinauf, machte es sich dort gemütlich. Die neuen Flügel konnte sie noch nicht vollständig nutzen, musste sich erst an sie gewöhnen. „Du kannst doch bestimmt etwas tun!"

Angespannt schüttelte die Hexe ihren Kopf. „Meine Spezialität sind Zaubertränke, ich habe aber nichts außer einen Teleporter dabei. Reicht jedoch nur für einen von uns." Tenebris fluchte abermals.

Ein Gebrüll brachte Echo mit sich, verzerrte die Luft. Es hallte nach, lange. Dramatische Stille befreite sie nur kurz von den herzzerreißenden Geräuschen, denn alles wiederholte sich mehrmals. Immer lauter. Immer näher. Immer gefährlicher.

„Meine heiligen Fangzähne nochmal! Ist es nur eine unschöne Halluzination oder hört ihr das auch?", wollte der Kater besorgt wissen.

„Alles, was hier gerade passiert, ist ausnahmsweise echt. Vergesst eure Sinne, es ist keine Illusion, nicht euer persönlicher Alptraum", erklärte Dhara. „Wir sind verloren, Freunde. Endgültig."

Die Geschöpfte, die kamen, bestätigten dies. Sie waren plötzlich da, ihre Schritte so leise wie die Stille selbst. Sie waren schnell wie Licht und Finsternis – große, formlose Schatten mit drei Augen und unzähligen Krallen an den riesigen Tatzen. Riu merkte sich detailliert deren konturlose Gesichter, denn er wusste – das hier war das Gesicht des Todes und das Letzte, was er je sehen würde.

Gnadenlos kamen sie näher. Der Dieb zog seine Waffe aus der Tasche; das Messer wirkte hier wie eine Nadel, mit der man den Allwissenden erstechen wollte. Genauso nutzlos.

Wie angewurzelt verharrte Riu, unfähig, nur eine Bewegung zustande zu bringen. Den anderen schien es ähnlich zu gehen; nicht einmal Tenebris kommentierte das Geschehen, seine Flüche verstummten.

Rennt!", schrie Riu und sprintete los. Seine Instinkte befielen ihm dies, trieben ihn vorwärts. Die Übrigen folgten ihm, Rufe und Gebrüll holten ihn ein. Er schaffte sich einen Vorsprung und doch wagte er es nicht, weiterzulaufen, sondern hielt an, um auf die anderen zu warten.

Die Hexe kam gut voran und auch die Krähe war in der Luft unerreichbar. Aber Tenebris musste gegen Herausforderungen ankämpfen: Zwei Schatten hatten ihn beinahe eingeholt, brüllten voller Vorfreude, den Kater tot zu sehen. Die Blicke des Panthers hasteten fieberhaft umher, seine Pupillen waren im Angesicht des Todes weit aufgerissen.

„Tenebris!", rief die Hexe, als auch sie sich des Problems bewusst wurde. Der Dieb machte kehrt, steuerte auf die Bestien zu, die den Kater fast erreicht hatten. Dieser hatte sein Schicksal längst akzeptiert, war sogar stehengeblieben und nun knurrte er, in der Hoffnung, die Schatten so lange wie möglich aufzuhalten.

Wie in Zeitlupe sah der Dieb, wie einer der Monster die dunkle Pfote hob, ganz wie der Tod seine Sense; sah, wie Tenebris zusammenzuckte, wie sich dessen Fell sträubte. In der letzten Sekunde schmiss sich der Dieb vor ihn auf die Erde, die Kälte des Bodens ging auf ihn über, betäubte seine Sinne. Die Sense oder die Pfote – er wusste es nicht ganz genau – prallte gegen seinen Leib und er heulte auf, schwach und einsam wie ein Schatten, aber ein Schatten seiner selbst.

Schmerz durchfuhr ihn, blendete seine Gefühle und Gedanken aus. Es schien, als würde die Welt in diesem Moment zusammenbrechen; und er gönnte es ihr. Gönnte es Somnia mit allem, was er war und mit allem, was er nicht mehr sein würde, weil er hier und jetzt starb. Er gönnte es ihr mit all dem Hass, mit der Verabscheuung tief in seinem Herzen; gönnte es ihr im Namen der großen Göttin, im Namen des Lebens und des Friedens.

Es war ihm egal, dass er starb. Doch war er nicht froh darüber, hier zu sterben.

Aber unerwartet war da ein anderer Schmerz, jedoch ein vertrauter. Er ließ den jungen Mann innehalten und dann kam plötzlich die bekannte Schwärze. Er fiel und er war darüber glücklich, zu fallen.

𝐃𝐢𝐞 𝐍𝐚̈𝐜𝐡𝐭𝐞 𝐯𝐨𝐧 𝐒𝐨𝐦𝐧𝐢𝐚Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt