𝟏𝟒. - 𝐄𝐢𝐧 𝐧𝐞𝐮𝐞𝐫 𝐏𝐥𝐚𝐧

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Tief im Inneren wusste Riu, dass die anderen vielleicht länger brauchten. Er hatte einfach Glück gehabt, in der Nähe des Treffpunkts geblieben zu sein. Und doch trieb ihn jede Sekunde des Wartens in den Wahnsinn. Die Ruhe und Stille malten Endsituationen in seinem Kopf  – wo schließlich niemand mehr kam und er alleine an diesem schrecklichen, angsteinflößenden Ort blieb. Verloren. Zurückgelassen. 

Und jeder Tag hier würde wie ein Atemzug sein zwischen dem stetigen Luftanhalten – vor Sorge, dass er den nächsten Sonnenaufgang nicht mehr miterleben würde. Heute war er beinahe ums Leben gekommen. Noch nie zuvor war der junge Mann dem Tode so nahe gewesen.

Aber selbst wenn er es irgendwie schaffen sollte, sich dem Leben in Somnia anzupassen, was ihm schon unmöglich vorkam, er wusste – der Schwur würde ihn schlussendlich töten. Weil er nicht in der Lage war, nach der Hexe zu suchen, wenn er doch selbst so sehr gefunden werden wollte. Aber wer brauchte schon einen wie ihn? Wer brauchte einen Dieb? Er hatte keine Familie, keine Freunde. Schon gar nicht Vertraute wie die der Hexe, die für ihn bis in den sicheren Tod reisen würden.

„Riu? Bis du's wirklich?" Auf einmal war Tenebris da und Riu konnte nicht anders, als vor Erleichterung erschöpft aufzulachen und den grummelnden Kater in eine feste Umarmung zu schließen. Dabei vergaß er seine Gabe, die sich sofort bei ihm meldete. Riu sah Erinnerungsabschnitte, Gefühle des Katers.

Er hörte Stimmen. Sah Berge. Da war ein Fels, eine Falle! Riesige dunkle Miezen – die Panther. Und Angst. Eine unglaubliche Angst, die endlos zu sein schien. Ganz schwach, nur nebenbei, nahm Riu auch seine eigenen Gefühle wahr. Es war vor allem Glück. Denn er war nicht allein, Tenebris war bei ihm! Und dieser hatte ihn gerade eben das erste Mal beim Namen genannt.

„Weißt du, wenn du mich berührst oder nur da bist, einfach nur da bist, da ... da geht es mir manchmal besser", sagte Tenebris und schmiegte sich in die Umarmung, protestierte ganz und gar nicht, was der Dieb von ihm schon eher erwartet hätte. „Es ist, als würde mir etwas das Negative nehmen, den Schmerz. Und damals, in der Nacht, wo ich eine Präsenz gespürt habe ... das warst du, oder?"

Riu trennte die Verbindung und starrte gedankenverloren die Wiese an. Was sollte er jetzt nur sagen? Was war das Richtige und was das Falsche? Was waren die passenden Worte?

„Ich ... ich habe eine Gabe, die mich verwundbar macht", fing er genauso an, wie er es vor Kurzem der Krähe eingeredet hatte. „Ich sehe Erinnerungen, Gedanken und Gefühle der Lebewesen, vor allem bei Körperkontakt. So teilen sie mit mir ihre Schmerzen und ihr Glück. Dabei ist es für mich nichts als Last und Probleme. Die Menschen in meinem Dorf würden mich als Gefahr sehen, wenn sie an dieses Geheimnis kommen würden." Riu verschwieg die Tatsache, dass er sowieso gerade nicht der Beliebteste in seiner Heimat war.

„Und deswegen wolltest du zu Dhara?", verstand Tenebris. „Damit sie dir hilft, deine Gabe loszuwerden? Aber das ist Schwachsinn, du solltest sie behalten!"

Der Dieb zuckte mit den Schultern. Er wollte das Gespräch nicht fortführen: Zu schlecht fühlte er sich dabei, Tenebris zu belügen.

„Ist ja auch egal, wir müssen erstmal überhaupt euer Frauchen finden!"

„Frauchen? Rede nicht so, als wären wir ihre Haustiere, du dummes Menschenkind! Wir sind Gefährten oder Vertraute, aber niemals blöde Schoßhündchen!", fauchte der Kater und sträubte sein Fell. Es hing Tenebris an manchen Stellen in Klumpen hinunter und es zogen sich Kratzer durch seine Haut und echtes Blut klebte, das Riu aber nicht mehr ansehen konnte, ohne, dass ihm schlecht wurde.

Der Panther bemerkte seinen geschockten Blick und wich dem Augenkontakt aus. „Ist ja aber jetzt egal; du konntest ja auch nicht wissen, dass wir Vertraute und keine Haustiere sind", beruhigte er sich. „Wo ist überhaupt Nox?"

Unruhe erfüllte abermals Rius Inneres. Von ihnen drei war die Krähe am schnellsten. Lautlos und geschwind war sie immer durch den Himmel geflogen, hatte nie auf sich lange warten lassen. Was war denn heute geschehen?

„Da! Siehst du es auch? Da ist etwas!", miaute der Kater, ehe Riu seine Augen anstrengte. Und ... Tatsächlich! Auf dem Boden, nicht ganz weit, da war etwas! Es schlenderte durch die Wiese mit hängendem Kopf, bewegte sich auf sie zu.

„Nox? Ist sie das?", fragte Riu. „Aber warum fliegt sie nicht?"

„Hat dir Somnia auch noch das Augenlicht genommen? Siehst du denn nicht, dass sie nicht kann?!"

Der Stimmungswechsel hing bedrückend in der Luft, ließ Riu nervös von einem Fuß auf den anderen treten. Zuerst erkannte er nichts, bis Nox' starke Gefühle ihn erreichten. Da war grenzenloser Schmerz. So groß, dass der Dieb sich zurückhalten musste, um nicht aufzuheulen. So groß, dass man Tausende, nein Millionen, von solchen wie ihn bräuchte, um nur annähernd dieses Leid zu lindern.

Ein Schauer durchlief Riu, bis er endlich verstand, was denn wirklich los war: Nox war nah genug, um alles an ihr begutachten zu können.

Ungläubig und tränend starrten Rius dunkle Iriden die Krähe an. Jemand hatte ihr buchstäblich die Flügel aus dem Leib gerissen. Der eine steckte zwar noch zur Hälfte drinnen, schien aber so nutzlos zu sein wie ein Kamin ohne Feuer. Der andere fehlte gänzlich, aber Riu guckte weg, da er den ganzen Schrecken nicht wahrhaben konnte. Wer ... wer war denn nur so gnadenlos, einem Vogel das Wertvollste zu nehmen, was er hatte? Etwas zu nehmen, ohne dem er sonst sterben würde? Wer konnte so herzlos sein, einem Vogel den Himmel zu nehmen!? Den Lebenssinn?

„Es war ein Vexir", fing die Krähe an, ohne sie begrüßt zu haben. Ihre Stimme zitterte wie alles an ihr. Nox' geschwächter Körper schien die Gefühle, die sie überfluteten, nicht auszuhalten. „Er war ... er sah ... genauso aus wie der, der meine Geschwister im Nest vernichtet hat. Wir waren damals Küken! Wir waren hilflos! Dieser elender, barbarischer ... Meine Flügel! Was wird jetzt nur aus mir? Was wird aus meinem Leben?"

Dann weinte sie. Lange und ununterbrochen. Nicht Riu und nicht einmal Tenebris konnten ein beruhigendes Wort für sie finden. Aber der Dieb wusste, dass sie nächste Nacht zusammen gehen würden. Ganz egal, was er noch opfern würde, denn es würde nichts im Vergleich zu dem sein, was Nox heute genommen wurde. 

𝐃𝐢𝐞 𝐍𝐚̈𝐜𝐡𝐭𝐞 𝐯𝐨𝐧 𝐒𝐨𝐦𝐧𝐢𝐚Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt