𝟏𝟏. - 𝐃𝐞𝐫 𝐓𝐚𝐠

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Alles hätte Riu von Somnia erwartet. Dass sie beherrscht und kontrolliert war von dunklen Kreaturen, dass das höllische Klima ihm keinen Atemzug nehmen ließ oder dass sie von dichtem, schwarzem Nebel bedeckt wurde. Doch die Welt war gar nichts davon – sie war gewöhnlich. Völlig normal.
Bäume wie die in Lornir auch ragten in den Himmel empor; ihre üppigen Kronen boten Schatten und die Äste wogen im Takt des Windes. Am Horizont ließen sich Berge erkennen und es war weder kalt noch warm.

Es schien eine gewöhnliche Sonne, die Licht über der Erde verteilte. Sie lachte einem förmlich entgegen, wirkte lebendig, wie ein Teil des großen Ganzen. Die Idylle vervollständigte die völlige Ruhe, die sich der Dieb seit Jahren erträumt hatte. Jetzt hatte er endlich, was er wollte: Eine Welt ganz für sich allein. Hier musste er sich vor niemandem verstecken, vor niemandem seine Gabe verbergen. Hier war er frei.

„Freue dich nicht zu früh, Menschenjunge, hier sieht jeder, was er sich erhofft. Da, siehst du Tenebris?" Nox deutete in Richtung des Panthers, welcher misstrauisch und doch aufgeregt um sich blickte. „Ihm erscheint eine andere Landschaft und wahrscheinlich seine Artgenossen, wie auch immer er sich diese vorstellt. Ich sehe einen farbenfrohen Sonnenaufgang und Vögel ... oh, es sind so viele, dass sie den ganzen Himmel bedecken und man keinen Anfang und kein Ende sieht!"
Riu erschauderte. Augenblicklich wurde ihm schlecht und er bereute es, dass er sich nicht früher über Somnia informiert hatte. „Also ist das alles nicht echt? Aber was ist dann echt?"

„In Somnia ist gar nichts echt! Jeder sieht, was er sehen will. Es ist die Welt der Lügen, schöngeredet als Welt der Träume. Gibst du dich ihnen hin, werden sie dich vernichten. Doch der wahre Schrecken ...", Tenebris, der auf einmal da war, stützte sich mit beiden Vorderpfoten an Rius Brust ab. Dieser saß auf dem tauen Gras, berauscht von der Erzählung des Katers, „... der wahre Schrecken beginnt nachts!"

„Aber ... warum?"

„Während man sich tagsüber entspannt zurücklehnen und das Ganze genießen kann, ist in der Nacht die Hölle los. Hier werden zwar Träume von jedem Lebewesen bewahrt, aber lebendig werden nur deine eigenen. Alles, sowohl gute Träume als auch Alpträume. Die Guten werden dich zu sich locken, bis du dich in ihnen verlierst, die Bösen jagen dich, finden keine Ruhe, bis sie dir das Leben nehmen."

„Warum ... warum erfahre ich das erst jetzt?" Der Dieb ließ fieberhaft seinen Blick umherschweifen. Er war entsetzt; die Perfektion der Welt, die er anfänglich bewundert hatte, empfand er nun als gruselig. Er wusste ja schon von Tenebris' Erinnerungen, dass die Reise ziemlich unangenehm sein würde, die Details waren dennoch vor ihm verborgen geblieben.

„Jetzt ist es sowieso zu spät, um etwas zu bereuen. Wir brauchen einen Plan. Nun, anders als in anderen Welten hat diese keine Zeit und keinen Raum. Wie wir hier Dhara finden sollen, ist daher eine große Frage."
„Hauptsache wir verirren uns nicht selber!", unterbrach der schlechtgelaunte Tenebris die Krähe. „Hier sind deine eigenen Sinne der größte Feind!"

„Nun ja, wie gesagt, einen Ausweg gibt es ja jetzt sowieso nicht."

„Wegen dir! Du hast das dumme Menschending auf deine Seite gelockt wie ein schlechter Somnia-Traum!"

„Ich? Was habe ich damit zu tun? Es war einzig und allein seine Entscheidung! Außerdem hast du ja schließlich  selbst dafür gestimmt und ..."

„Ich hatte keine Wahl, ich war verwirrt!"

„So verwirrt hast du aber gar nicht ausgesehen, ganz im Gegenteil!"

Riu rollte mit den Augen. Auf einen Streit konnte er gerade noch ganz gut verzichten. Die Krähe und der Kater waren eben die einzigen Vertrauten, die ihm noch geblieben waren. Sie sollten lieber zusammen bleiben, um zu überleben. 

„Kükenkot nochmal! Seht ihr das auch?", fragte Nox plötzlich. Riu verstand, was sie meinte, als er den Himmel ansah, der sich mit jeder Minute zu verdunkeln schien. „Es ist bald Nacht. Gut, dass wir zumindest das gleich wahrnehmen. Dabei war es bei mir gerade noch Morgenröte. Schade."

„Okay, wir sollten dringend etwas entscheiden. Unser Ziel: so schnell wie möglich unsere Dhara zu finden, richtig? Außerdem werden wir nachts, ob wir nun zusammengehen oder nicht, sowieso unseren eigenen Träumen gegenüberstehen. Macht es dann nicht mehr Sinn, wenn wir uns aufteilen?", schlug Tenebris vor. Riu wollte protestieren, doch die Krähe ergriff vor ihm das Wort.

„Das macht Sinn, in Ordnung. Aber wo treffen wir uns am Morgen, falls wir überleben?"

„Nun, jeder merkt sich diesen Ort für sich, da er bei jedem anders aussieht und dann versuchen wir irgendwie wieder zueinander zu finden. Es wird schon, ihr werdet sehen. Die Tage werden unser kleinstes Problem sein", antwortete die Krähe.

Niemand hatte daran gedacht, Riu zu fragen. Aber es war okay. Er würde sein Bestes geben.

𝐃𝐢𝐞 𝐍𝐚̈𝐜𝐡𝐭𝐞 𝐯𝐨𝐧 𝐒𝐨𝐦𝐧𝐢𝐚Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt