𝟔. - 𝐑𝐞𝐭𝐭𝐮𝐧𝐠 𝐢𝐧 𝐝𝐞𝐫 𝐍𝐨𝐭

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„Er lenkt ihn ab. Ich werde ihm helfen ... die Streichhölzer. Hol dir die Streichhölzer!", krächzte Nox direkt an sein Ohr, während Fellfetzen und schmerzerfülltes Gejammer durch die Luft geschleudert wurden. Die Krähe flog davon; zu Tenebris, direkt in die Klauen des Wolfs. Riu zog seinen Kopf ein und kämpfte gegen den Drang an, sich aus dem Staub zu machen. Seine Instinkte befielen ihm dies. Die Instinkte eines Diebes.

Sein panischer Atem mischte sich mit Tenebris' Geschrei. Der Kater würde es nicht länger aushalten. Er würde sterben. Und Nox auch. Wie der Lord. Langsam. Qualvoll. Ihm fehlte Luft, denn diese war auf einmal schwer und dick von dem klebrigen Gestank nach Eisen, nach Blut. Nach Leid. Nach Tod. Er könnte vielleicht sogar seinen versteckten Messer aus seiner geheimen Jackentasche ziehen, wäre er nicht in diesem schweren moralischen Zustand.

Die Tränen bahnten sich einen Weg über Rius Wangen. Aber er musste etwas tun. Er musste ... er ... Streichhölzer! Nox hatte etwas von Streichhölzern gesagt. Aber was war das? Der fieberhafte Blick schweifte umher, verharrte auf einer kleinen Box, seitlich von ihm liegend, nicht weit entfernt. Von dort aus hatte Tenebris den Allwissenden angesprungen. Er musste dieses ... dieses Ding aus Lornir mitgenommen haben.

Er rannte. Schneller. Noch schneller. Er spürte Nox' Angst, Tenebris' Schmerz und die Wut des Allwissenden alle auf einmal. Als wären seine eigenen Gefühle nicht genug. Er schmiss sich auf die Knie. Tränen rannten ihm über die Wangen und tropften auf die trockene Erde, die sich über die Gelegenheit, ihren Durst zu stillen, bestimmt sogar freute. Er war noch nie ruhig genug in Gefahrensituationen gewesen, hatte noch nie gelassen genug im Angesichts des Todes gestanden. Er hatte ein zu weiches Herz, was für einen Dieb unverzeihlich war. Auch seine Gabe trug dazu bei. Sie hatte ihn verwundbar gemacht. Schwach.

Er nahm die Box in die zitternden Hände, versuchte, die Schreie von hinten auszublenden. Und davor sollte der Allwissende Angst haben? Vor einer kleinen Box? Er drehte sie hin und her, bis ihm endlich in den Sinn kam, sie zu öffnen. Da waren Stöckchen. Lächerlicher konnte es wohl gar nicht mehr werden.

„Zünd sie an, Menschenkind. Na los!", schrie Tenebris. Riu wirbelte herum und hielt inne. Sein Blick traf auf den der Bestie. Die Pupillen des Wolfs schrumpften und Riu stellte zu seinem Schrecken fest, dass er von den Tieren abließ, als er die Box in Rius Händen bemerkte. Er stieß ein wütendes Knurren aus und bewegte sich auf ihn zu. Muskulöse Pfoten brachten die Erde zum Beben.

„Du musst eins an der Schachtel reiben!"

Riu nahm ein Stöckchen zwischen Daumen und Zeigefinger und rieb es an der Box. Einmal. Zweimal. Immer panischer, bis das Streichholz ein kleines Feuer an seiner Spitze gebar. Wie gebannt beäugte Riu das plötzliche Licht. Der Wolf knurrte leise, zog sich etwas zurück, aber blieb überraschenderweise in Rius Nähe. Angst stand in seinem Blick.

„Wo ist Dhara? Antworte oder wir verbrennen dich bei lebendigem Leibe!" Der Kater näherte sich humpelnd. Sein Rücken erinnerte Riu an eine blutige Masse. Sein Ohr war zerrissen. Die Krähe sah wenig besser aus. Ihr glänzendes Federgewand hatte gelitten, doch wie durch ein Wunder konnte sie sich noch immer in der Luft halten.

„Die Hexe war vor einer Woche hier." Die Augen des Allwissenden waren einzig auf das Streichholz in Rius Händen gerichtet. „Sie wollte wissen, wie man einem Alptraum ein Ende setzt."

„Einem Alptraum? Rede keinen Blödsinn, du weißt genau, dass sie noch nie etwas geträumt hatte!", knurrte Tenebris, doch auch Zweifel schwebten in seiner Stimme mit.

„Es ist die reinste Wahrheit. Sie ist zu mir gekommen, weil sie wissen wollte, wie sie einen Alptraum loswird", wiederholte der Wolf, „obwohl du, schwarzer Panther, meiner Meinung einen viel größeren Alptraum für alle darstellst."

„Weich nicht vom Thema ab!"

„Nun, so hilfsbereit wie ich bin, habe ich ihr geantwortet." Riu dachte bei sich, welche Opfer die Dorfhexe wohl alles bringen musste, um an die Antwort zu gelangen.

„Was hast du ihr denn gesagt?", wollte die Krähe angespannt wissen.

„Ich habe ihr gesagt, sie soll in der Traumwelt ihren Alptraum suchen und sich diesem stellen. Ich habe sie nach Somnia geschickt", berichtete der Allwissende artig. Sein Maul verzog sich zu einem selbstgefälligen Grinsen, als Nox und Tenebris verzweifelte Blicke wechselten.

„Du musst uns helfen, sie daraus zu holen. Sofort!", befahl die Krähe, doch der Wolf schüttelte den bläulichen Kopf und seine Augen lachten den Vogel aus, wirkten amüsiert.

„Nicht so schnell, denn ich glaube, eure Waffe geht gleich verloren!", meinte er und im selben Moment spürte Riu eine brennende Hitze an seinen Fingern. Er schrie auf und ließ das Streichholz los, genauso wie die kleine Schachtel. Sie fielen und es dauerte keinen Wimpernschlag, bis der große Wolf dort angekommen war und den Gegenstand mit seiner riesigen Tatze zerschmetterte.

„Sag mir nicht, du hast ein brennendes Streichholz mit dem Kopf nach unten gehalten, du Dummkopf!", knurrte Tenebris an Riu gewandt. Riu biss sich hart auf die Unterlippe. Die Spielchen waren vorbei. So einfach.

„Eigentlich sollte ich euch jetzt allesamt in Stücke reißen oder lebendig verzehren. Wegen eures unerwarteten Angriffs, den ihr trotz meiner Gastfreundschaft ausgeübt habt, und wegen der Erpressung." Die schallende Stimme der Bestie war getränkt mit Belustigung. „Jedoch tue ich aus tiefster Herzensgüte nichts dergleichen." Wieder wechselten Nox und Tenebris ihre Blicke. Unbehagen erfüllte Riu, als das tiefe Schwarz auf das Gold traf.

„Wisst ihr, ich mag Blumen, oh, und vor allem Lilien, die leider nur in den nicht magischen Welten wachsen und die kann ich überhaupt nicht leiden. Außerdem fehlt mir da die Motivation, meine eigene Welt zu verlassen. Aber ihr ... ihr könntet mir ja einen Gefallen tun und mir eine Lilie holen. Dann könnte ich euch vielleicht sogar verzeihen. Und wenn ihr ganz viel Glück habt ... dann schicke ich euch geradewegs nach Somnia."

„Dass ich freiwillig nach Somnia reise! Ihr könnt mich mal ..."
„Tenebris, so weit sind wir doch gar nicht. Es geht vorerst nur um unser Leben", entgegnete die Krähe ernst und Tenebris verstummte.

„Wie schön, dann wäre das geklärt! Ihr habt einen Tag Zeit, dann hole ich euch zurück!" Der Wolf lachte abermals. Leicht, aber abschreckend; unheimlich. Augenblicklich wurde Riu übel. Sein Kopf schmerzte nun mit jeder Sekunde mehr. Dann wurde es wieder dunkel. Und er fiel.

𝐃𝐢𝐞 𝐍𝐚̈𝐜𝐡𝐭𝐞 𝐯𝐨𝐧 𝐒𝐨𝐦𝐧𝐢𝐚Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt