Das Lagerhaus

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Bei der Lagerhalle handelte es sich um eine fünfstöckige Halle, die grau und dunkel zwischen den restlichen Gebäuden stand und irgendwie gruselig aussah. Vielleicht sah sie auch nur den Umständen entsprechend gruselig aus. Und die Umstände waren nun mal, dass möglicherweise innerhalb dieses Gebäudes eine unschuldige Person festgehalten wurde.
Wir beide schienen zu zögern und starrten nur auf die Halle. Das brachte allerdings auf die Dauer gar nichts. Wenn wir irgendetwas erfahren wollten, dürfen wir uns nicht von so einem Gebäude einschüchtern lassen. Was sollte uns darin schon erwarten? Ich hatte nämlich us irgendeinem Grund nicht das Gefühl, dass es der Ort war, an dem Tiziana festgehalten wurde.
Ich machte ein aufforderndes Zeichen in Richtung der Halle zu Matteo. Wir stiegen aus dem Auto und liefen nebeneinander her.
Als wir es erreichten, erblickten wir den relativ unscheinbaren Eingang. Die Tür war selbstverständlich verschlossen. Matteo rüttelte ein paar Mal an ihr, doch sie gab nicht nach.
Ich erinnerte mich an den Trick mit der Haarnadel, den ich am Tag zuvor angewendet hatte und fragte mich, ob es wohl noch einmal funktionieren würde. Ich zog also eine Haarnadel aus meinem Haar und versuchte, wie gestern im Büro meines Vaters, das Schloss zu öffnen. Ich stocherte im Schloss rum und hoffte, wieder diesen Klick zu hören.
Jedoch stocherte ich noch eine Weile in diesem Schloss rum und nichts geschah.
„Engelchen, ich möchte dich nicht enttäuschen, aber vielleicht sollte ich es mal versuchen?", schlug Matteo mir vor, weil er meine Verzweiflung sehen konnte.
„Hast du das schon mal gemacht? Nein. Ich schon und dadurch haben wir erst diese Adresse", erwiderte ich trotzig. Ich wollte wirklich nicht aufgeben.
Matteo stand mit verschränkten Armen neben mir und beobachtete meine verzweifelten Versuche. „Nur weil es einmal klappt, heißt es nicht, dass du auf einmal Profi-Einbrecher bist."
„Das kann doch kein besseres Schloss sein, als das meines Vaters im Schreibtisch. Nicht in dieser Gegend", jammerte ich.
„Unterschätze nicht die Gegend, nur weil sie verlassen aussieht und nicht luxuriös"
Matteo geduldete sich noch ein bisschen, doch irgendwann zog er mich hoch und nahm mir die Nadel aus der Hand. Anschließend hockte er sich vor das Schloss und versuchte sein eigenes Glück. Nach ein paar Sekunden machte es genau den Klick, den ich eben noch hören wollte. Es ärgerte mich, dass er es jetzt hinbekommen hatte.
Er machte sich wieder gerade und drehte sich zu mir um. Er lachte bei meinem trotzigen Blick und fing dann an mir die lose Strähne, die die Haarnadel eben noch hochgehalten hatte, mit der Hand wieder hochzustecken. Ich hinderte ihn auch nicht daran. Dann öffneten wir vorsichtig die Tür und warteten ab, ob ein Alarm losging. Doch es kam nichts. Kein einziges Geräusch.
Wir liefen rein und standen im Eingangsbereich. Rechts und links an der gegenüberliegenden Wand ging jeweils ein Gang in die Tiefen der Halle hinein. Zwischen den Eingängen zu diesen Gängen stand eine Art Rezeptionstisch mit Regalen dahinter. An der rechten Wand waren nur Stühle aufgereiht und an der linken waren zwei Fahrstühle und eine Tür zu dem Treppenhaus.
Ich schaute noch einmal auf meinem Handy, welcher Lagerraum gemeint war. Es war die Nummer 187. Dann lief ich hinter den Rezeptionstisch und schaute, ob sie irgendwo Ersatzschlüssel hatten. Am Tisch war nichts zu finden, doch in einem der Regale fand ich einen verschließbaren Kasten und schüttelte sie kurz. Das Klirren deutete darauf hin, dass es eindeutig Schlüssel waren. Ich warf Matteo einen vielsagenden Blick zu und er schien interessierter zu werden.
Er stellte sich neben mich. „Wie wollen wir diesen Kasten jetzt öffnen? Den gleichen Prozess nochmal?"
„Ich glaube wir haben keine andere Wahl", antwortete ich wiederwillig.
Doch als ich einmal versuchen wollte den Kasten so zu öffnen, mit der Überzeugung, dass sie eh verschlossen ist, ich es aber wenigstens einmal versucht haben musste, ließ sie sich ganz einfach öffnen.
Verwirrt schaute ich zu Matteo. „So viel zur Sicherheit der privaten Gegenstände, die hier gelagert werden"
Matteo stimmte mir zu. „Ich weiß, wo ich meine Sachen nicht einlagern werde, sollte ich es mal brauchen"
Ich fing an in dem Haufen der Schlüssel zu graben. Dabei murmelte ich die ganze Zeit die Nummer des Lagerraums vor mich hin. Dann fand ich ihn schließlich und fischte ihn aus dem Haufen.
Den Kasten stellte ich zurück an seine ursprüngliche Stelle, um es halbwegs so aussehen zu lassen, als wäre niemand hier gewesen.
Matteo und ich machten uns auf den Weg zu dem Treppenhaus. Bevor man durch die Tür gehen musste, um zu den Treppen zu gelangen, hing an der Wand ein Schild, welches darauf hinwies, auf welchem Stockwerk, welche Zahlen zu finden waren. Nummer 187 war wie alle anderen des Hunderterbereiches im ersten Stockwerk.
So müssen wir wenigstens nicht so viele Treppen laufen, dachte ich mir.
Wir stiegen schweigend die Treppen herauf, noch immer vorsichtig vor jeder Art von Geräusch. Mich wunderte es noch immer, dass an einem Sonntag nichts los war. Ich hätte gedacht, das an ihren freien Tagen, die Mieter der Lagerräume die Möglichkeit nutzen wollten, irgendwelche Sachen aus ihren Räumen zu holen. Doch dies war offensichtlich nicht der Fall, wenn die Halle geschlossen und die Rezeption nicht besetzt war.
Im ersten Stock angekommen, durchquerten wir die nächste Tür und standen vor dem ersten Lagerraum. Dieser war einer von vielen, nicht besonders großen Lagerräumen, die nah aneinandergereiht waren und immer weitere Gänge in beide Seiten abgingen. Es waren verschachtelte Gänge und wir irrten herum, bis wir schließlich vor dem Raum standen, den wir gesucht hatten.
187, stand groß auf der geriffelten, blauen Tür. Sie sah nicht besonders sicher aus und es war erstaunlich ruhig.
„Ich glaube nicht, dass Tiziana hier ist", flüsterte ich zu Matteo.
Er nickte. „Ich bezweifele es auch, sonst würde hier jemand davor stehen und den Raum bewachen, oder? Und man würde wenigstens ein Rascheln oder so hören"
„Außer -."
„Beende diesen Satz ja nicht, Mancini", warnte er mich, bevor ich weiterreden konnte. Ich drehte mich zu ihm um und schaute ihn genervt an. Er konnte die mögliche Wahrheit nicht einmal aussprechen.
„Wenn wir sie da gleich leblos auffinden, willst du dann einfach wieder rausgehen und nicht mehr darüber reden?"
„Nein, Siena. Natürlich nicht. Aber ich möchte einfach noch nicht daran glauben, dass sie tot sein könnte. Das hat nichts damit zu tun, ob ich es aussprechen kann oder nicht, sondern weil ich einfach nur nicht daran denken möchte, dass es wahr sein könnte. Und wenn ich es sage, klingt es real"
„Wenn du meinst", flüsterte ich. Ich konnte ihn auch irgendwie verstehen und es ergab alles Sinn, was er da sagte, doch ich wollte ihm trotz dessen nicht zustimmen. Mittlerweile ging es mir etwas um das Prinzip.
Also wandte ich mich wieder der Tür zu. Das Schloss war ganz unten und befestigte die Tür mit einer Metallkette an einem Ring, welcher wiederum im Boden verankert war.
Ich hockte mich hin, um das Schloss erreichen zu können und drehte das Schloss so, dass ich das Schlüsselloch vor meinen Augen hatte. Es war ganz neu. Es konnte noch nicht lange hier hängen.
Dann steckte ich den Schlüssel in das zugehörige Loch und drehte ihn um. Das Schloss sprang auf und ich legte es zur Seite. Dann zog ich die Metallkette aus der Halterung. Matteo griff nach dem Griff der Tür.
Mit etwas Mühe zog er die metallische Tür nach oben. Als er sie ganz nach oben geschoben hatte, schauten wir in einen dunklen Raum, mit nur feinen erkennbaren Umrissen.
An der Seite erspähte ich ein Seil und ich zog es runter, woraufhin sich ein gelbes Licht ausbreitete und die Sicht weitete sich auf wenige Möbelstücke und verstreuten Kram aus.
Auf der linken Seite stand ein Tisch, auf dem ein Stuhl und ein Karton hochgestellt standen und davor lag ein Hocker auf dem Boden. An der hinteren Wand stand ein Aktenschrank und rechts lagen eine Isomatte und eine Decke auf dem Boden, welche zerwühlt aussahen. Daneben eine leere Wasserflasche und ein angebissener Apfel.
Das war schon alles, was sich in diesem Raum befand. Ich lief zwei Schritte hinein und stand bereits in der Mitte, so klein war der Lagerraum. Dort drehte ich mich im Kreis und nahm das Wenige in mich auf, was wir vorgefunden hatten. Ich war leicht enttäuscht.
Matteo befand sich schon bei der Isomatte und inspizierte das Lager. Dort musste sich offensichtlich jemand aufgehalten haben. Und so wie das hier aussah, konnten wir uns denken, wen sie hier schlafen lassen haben.
„Tiziana wurde hier gefangen gehalten, oder?", fragte ich Matteo, die offensichtliche Situation ansprechend.
Er schaute mich an, mit einem traurigen Schimmern in seinen blauen Augen. „Sieht so aus. Aber nicht lange. Und sie haben ihr auch keine Zeit mehr gelassen, um ihren Apfel aufzuessen"
„Stimmt", stimmte ich mit einem Blick auf den schon braunwerdenden Apfel zu. „Wenn man bedenkt, dass sie sonst auch nicht viel zu essen bekommen wird, noch ein quälenderer Fakt"
Matteo blieb noch eine Weile neben dem Lager mit der Decke hocken. Ich schenkte meine Aufmerksamkeit jetzt dem Aktenschrank. Der wirkte in diesem ganzen Raum fehl am Platz. Der musste doch leer sein. Aber wieso stand er dann hier?
Ich ging hinüber. Der Schrank hatte zwei metallene Schubladen. Ich zog die obere auf und stellte fest, dass sie alles andere als leer war. Ich runzelte verwirrt die Stirn. Dann schaute ich durch die Papiere und stellte fest, dass die Akten alle über Mitarbeiter der Firmen der Mancinis und Fontanas waren. Und dazu auch detailreich angelegt.
In der unteren Schublade entdeckte ich dann die Akten über Matteos Eltern, Geschwistern und ihn, die Akten von Giulio und Tiziana Mariani und dazu die von meinen Eltern, Giovanni und mir. Geschockt blätterte ich durch die meines Vaters, in dem die Krise der Banca Mancini vor sieben Jahren umfangreich erklärt wurde. Dann las ich durch meine eigene durch und ärgerte mich erst über die Bilder, die die erste Seite zierten. Sie wurden alle in meinem Unwissen aufgenommen, während ich mich irgendwo auf einer Straße oder in einer Bar befand, oder auch in der Uni. In meinem Text stand zum Glück nichts Skandalöses, bis auf einzelne Partygeschichten vielleicht, aber die zählten nicht.
Mit einem Blick hinter mich, sah ich, das Matteo am Schreibtisch stand und gerade in Gedanken hing. Also nahm ich mir die Freiheit nach seiner Akte zu greifen und hineinzuschauen. Bis auf seine Partygeschichten oder beruflichen Erfolge stand auch hier nichts Besonderes. Ich musste zugeben, dass es mich leicht ärgerte, weil ich auf etwas gehofft hatte, womit ich ihn wenigstens etwas aufziehen hätte können.
Anschließend griff ich nach der Akte seines Vaters, Frederico Fontana. Die ersten Seiten waren unauffällig. Sein Lebenslauf war aufgelistet, wo er studiert hatte und in welchen er Beziehungen er von wann bis wann war. Doch irgendwann stieß ich auf etwas, was mich neugierig werden ließ
Dort wurde nämlich beschrieben, wie Frederico Fontana vor genau sieben Jahren einen Privatdetektiv eingestellt hatte, um meinen Vater zu überprüfen. Ihm waren damals ungewöhnliche Sachen aufgefallen, die ihn stutzig gemacht hatten. Dieser Detektiv hatte ihm aufgedeckt, was mein Vater mir neulich gebeichtet hatte.
Wenn er damals davon erfahren hatte, wieso hat er nie was gesagt?
Ich las weiter. Anscheinend hatte er meinen Vater irgendwann zur Rede gestellt, doch dieser hatte ihm gedroht. Ich weiß nicht womit mein Vater Frederico bedroht hat, aber es schien gewirkt zu haben, da danach nichts mehr zu dem Thema stand. Das Thema schien danach beendet gewesen zu sein.
Wieso wurde dieses ganze Thema der Krise unserer Bank nur so kurz angesprochen? Und wieso hat mein Vater mir nichts davon erzählt, dass Frederico da schon so lange etwas darüber wusste?
Ich musste ihn dringend nachher nochmal ansprechen. Das nahm ich mir fest vor.
Gedankenversunken steckte ich die Akte zurück in den Schrank und schloss die Schublade. Ich drehte mich um und blickte zu Matteo, der noch immer am Schreibtisch stand und selbst in Gedanken war. Ich wusste nicht, was er gerade dachte, doch es schien ihn zu beschäftigen.
Irgendwann riss ich uns beide aus dem Gedankengang und eilte zur Tür. Dabei zog ich ihn mit mir aus dem Lagerraum. Er sah mich fragend an, doch wehrte sich nicht. Ohne ein Wort ließ er es zu, dass ich die Tür vor seinen Augen wieder verschloss und ihn dann mit mir zog, um das Gebäude zu verlassen.
Erst bei seinem Auto fand er seine Sprache wieder. „Siena, ich mache mir Sorgen"
Ich schaute ihn an. Sein trauriger Gesichtsausdruck bedrückte mich, auch wenn ich ihm skeptisch gegenüber war. Schlussendlich waren wir in derselben Situation. Tiziana war uns beiden in gewisser Weise wichtig und dann kam dazu, dass wir gerade dabei waren, herauszufinden, ob seine Familie was damit zu tun hatte. Das konnte nicht einfach für Matteo sein.
Ich lief zu ihm und umarmte ihn. Ich war genauso überrascht darüber, wie er. Ich war mir nicht sicher, ob es eine gute Idee war, aber es schien mir das Richtige zu sein. Und er erwiderte die Umarmung und so standen wir eine Weile da.
„Ich mach mir auch Sorgen", gab ich bei und löste mich dann von ihm.
Er sah noch immer so traurig aus und steckte seine Hände in die Hosentasche. „Was wenn meine Eltern wirklich etwas damit zu tun haben?"
In dem Moment entschloss ich, ihm erst einmal nichts zu sagen. Nichts über die Akten und das, was sein Vater über meine Familie wusste. Und vor allem, was das alles mit Tiziana zu tun haben könnte.
„Weißt du was", fing ich an, ihm einen Vorschlag zu machen. „Wie wäre es, irgendwo zum Mittagessen hinzugehen? Ich bin hungrig und ich glaube wir beide haben Redebedarf. Wenn du möchtest, kannst du natürlich auch jemand anderen dafür anrufen, aber das Angebot würde stehen"
Matteo dachte nicht lange nach, sondern nickte schnell. „Nein, gerne. Das ist eine gute Idee. Ich hätte auch eine Idee, wo wir hingehen könnten"
Ich lächelte ihn leicht an und wir liefen auf unsere jeweiligen Seiten des Autos. 

I Hate it to love youBut I doWo Geschichten leben. Entdecke jetzt