Der Mieter des Lagerraums

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„Wie war deine Uni?", erkundigte sich Matteo beiläufig.
„Ganz gut. Ich hab mich nur leider nicht wirklich konzentrieren können"
„Ich auch nicht. Mir spukt dieser Lagerraum noch immer im Kopf herum"
Mich beruhigte es etwas, dass ich nicht die Einzige war, die nicht aufhören konnte an dieses Lager zu denken.
Die Stille, die folgte, war mir leicht unangenehm. Angestrengt suchte ich nach etwas, worüber ich mit ihm reden konnte. Auch wenn wir keine Probleme hatten, miteinander zu sprechen und wir uns irgendwie immer in einer Konversation wieder fanden, filterte ich ordentlich durch, welche Themen sicher waren. Und unsere Familien waren eigentlich kein sicheres Thema, aber ich hatte das starke Bedürfnis, mich noch einmal über das lächerliche Getue meiner Familie aufzuregen.
„Weißt du, was meine Mutter gerade plant?", fragte ich ihn also.
Er schaute mich erwartungsvoll an, während er an einer Ampel stehen blieb.
„Sie organisiert einen Ball. Morgen Abend"
Ungläubig blieb Matteo der Mund offen stehen. „Du machst Witze"
Ich schüttelte mit dem Kopf. „Nein, ich meine es ernst. Sie denkt, dadurch kommt mehr Aufmerksamkeit auf Tiziana"
„Das denkt sie nicht wirklich, oder?"
„Nein, das ist nur der Grund, den sie vorschiebt. Eigentlich will sie nur positives Licht auf den Namen Mancini werfen. Das wir uns so sehr um Tiziana sorgen, dass wir keine Kosten und Mühe sparen", erklärte ich ihm die Beweggründe meiner Mutter, die ich noch immer nicht glauben konnte.
Auch Matteo hatte ein Stirnrunzeln aufgesetzt. „Meinst du wirklich, Kosten und Mühe, die in einen Ball gesteckt werden, bringen sie wieder zu uns zurück?"
„Nein, natürlich nicht", gab ich ihm bei. „Was bringt es Tiziana, wenn wir tanzen und Spaß haben. Das bringt ja nicht die Entführer dazu, zu sagen, ja wenn die anderen Spaß haben, können wir das Tiziana ja nicht vorenthalten.
Nein, es geht ihr nur um die Aufmerksamkeit, die ihr geschenkt wird"
Matteo sah aus, als würde er sich das durch den Kopf gehen lassen. Dabei stützte er sich mit dem linken Ellbogen auf die Autotür und lenkte das Auto mit der anderen Hand. Ich beobachtete ihn kurz. Seine Haare waren sonst immer relativ kurz und bisschen wellig gewesen, doch sie waren ganz bisschen gewachsen, sodass sich ein paar richtige Locken bildeten.
Matteo schaute zu mir rüber und erwischte mich, wie ich ihn angeguckt hatte. Ich schaute schnell wieder weg und tat so, als hätte ich ihn nicht mal eine Sekunde lang angesehen. Ich konnte aber im Augenwinkel sehen, wie er lächeln musste und sich währenddessen wieder auf den Verkehr konzentrierte.
Irgendwann bogen wir ab und gelangten in das Industriegebiet, das genauso grau und trostlos aussah, wie am Tag zuvor. Sofort legte sich wieder ein unangenehmes Gefühl ein und ich freute mich jetzt schon darauf, hier bald wieder zu verschwinden.
Schon kurz darauf parkten wir vor dem Lagerhaus, das wir angesteuert hatten. Wiederwillig öffnete ich die Autotür und stieg aus dem Auto. Matteo machte es mir nach und lenkte mich dann mit einem Deuten mit dem Kopf in Richtung des Eingangs.
Wir liefen auf die Tür zu und ich war kurz davor meine Haarnadel wieder aus meinem Haar zu ziehen. Doch Matteo drückte meine Hand lachend wieder weg von meinem Kopf.
„Ich glaube, heute können wir das Lagerhaus legal betreten", stellte er fest und unterstrich diese Aussage damit, die Tür aufzudrücken.
Ich zuckte nur mit den Schultern und betrat dann den Eingangsbereich. Es war keiner da, außer ein Mann, der hinter der Rezeption saß. Er reagierte nicht auf uns, als wir auf ihn zuliefen und auch nicht, als wir direkt vor ihm standen. Ich wusste nicht, was wir tun sollten und schaute unsicher zu Matteo, der genauso wie ich unschlüssig wirkte.
Doch dann dachte ich noch einmal kurz nach und zog Matteo wieder zurück, bis wir wieder etwas entfernt an der Eingangstür standen.
Dort fing ich an zu flüstern. „Wenn wir wissen wollen, wer diesen Raum mietet, müssen wir an diesen Computer, den der Mann benutzt"
Matteo schaute kurz in die Richtung und dann wieder zurück. „Ich bezweifele ja, dass er uns einfach da ran lässt"
Ich nickte. „Unwahrscheinlich"
Wir dachten eine Weile nach. Dieser Mann musste abgelenkt werden und aus dem Eingangsbereich weg. Und wir brauchten einen Plan, wie wir das anstellen konnten.
„Ich habe eine Idee", teilte ich Matteo mit.
Selbstbewusst ging ich zurück zu dem Rezeptionisten und brachte meinen ganzen Mut zusammen. „Hallo"
Desinteressiert schaute der Rezeptionist hoch. Seine geringe Motivation wunderte mich nicht. So oft konnte hier keiner vorbeikommen, was bedeutete, dass er hier hauptsächlich nur rum saß und sich langweilte.
„Wie kann ich Ihnen helfen?", fragte er, obwohl er vermutlich keine Lust hatte, mir auch nur ansatzweise zu helfen. Doch dies musste er heute nun mal tun. Ich würde erst aufgeben, wenn ich ihn von diesem Tisch weglotsen konnte.
Ich atmete tief ein. „Mein Bruder und ich brauchen Ihre Hilfe. Unsere Familie hat hier einen Raum, schon wirklich lange. Ich war neulich hier und sollte ein paar Sachen wegbringen und rausholen. Und dabei muss ich leider den Schlüssel verloren haben. Hören Sie, wenn meine Eltern das erfahren, dass ich den Schlüssel verloren habe, werden sie mich umbringen"
Der Mann schaute noch immer gelangweilt aus. „Und was kann ich da bitte für Sie tun?"
„Naja, ich hab alles abgesucht und die einzige Möglichkeit, wo der Schlüssel noch sein könnte, ist hier im Lagerhaus."
Er nickte. „Und jetzt?"
Ich hätte gedacht, dass das genug wäre, um ihm zu sagen, was ich wollte. Doch er brauchte augenscheinlich eine offensichtliche Aufforderung. „Könnten Sie vielleicht gucken, ob jemand den Schlüssel abgegeben hat in den letzten Tagen? Vielleicht habt ihr ja einen Fundsachenkasten"
Der Mann seufzte tief und stand sehr genervt auf. „Einer von euch kann mir ja mal folgen"
Innerlich freute ich mich riesig über meinen Erfolg. Äußerlich zeigte ich ihm mein dankbarstes Lächeln. „Vielen, vielen Dank. Mein Bruder geht mit Ihnen und ich würde den Weg zum Lagerraum einmal absuchen, wenn das okay wäre"
Er nickte nur und lief dann los. Matteo lief ihm hinterher und schaute noch mal gequält zu mir zurück. Ich musste grinsen, weil ich Matteo gerade die unangenehmere Aufgabe von uns beiden gegeben hatte, den Mann so lange wie es ging abzulenken und von dem Eingangsbereich wegzuhalten.
Sobald sie aus dem Raum raus waren, lief ich um die Rezeption herum und setzte mich auf den Stuhl, der vor dem Tisch stand. Zum Glück hatte er den Computer angelassen. Nur die Frage war jetzt, wo ich suchen musste.
Ich tippte eine Weile verloren überall herum, bis ich schließlich zu einem Programm des Computers fand, wo anscheinend alle Daten und Formulare des Lagerhauses aufgelistet waren. Ich hatte kurz befürchtet, dass ich mich durch die Ordner suchen musste, die hinter mir im Regal standen. Das hätte zu viel Zeit in Anspruch genommen. Zeit, die ich vermutlich nicht hatte, weil Matteo den Rezeptionisten ja nicht ewig fernhalten konnte.
In diesem Programm konnte ich Listen über Finanzen und solchen Kram finden, aber auch den Kaufvertrag des gesamten Gebäudes. Ich schüttelte über deren Unfähigkeit, der sich mir hier zeigte, den Kopf. Schließlich fand ich das, was ich gefunden hatte.
Die Listen der Mieter. Immerhin waren sie alle ordentlich aufgelistet und sehr detailreich noch dazu. Ich scrollte runter, da sie nach Nummern sortiert worden sind. Ich kam über die Nummer Hundert und schließlich erreichte ich die 187. Ich las die Zeile durch und wartete auf den Namen des Mieters. Und dann las ich den Namen. Ich hatte es erwartet, weil ich die letzten Tage ja genau der Meinung gewesen war, doch ein bisschen ungläubig war ich trotz dessen.
In dicken schwarzen Buchstaben stand da der Name: Frederico Fontana.
Mir tat es jetzt schon leid, dass ich Matteo gleich erzählen musste, dass sein Vater der Mieter des Lagerraums war. Er hatte Angst davor gehabt und ich wusste wie wichtig ihm seine Familie war.
Kurz wunderte ich mich über mich selbst. Hatte ich gerade gesagt, er tat mir leid?
Schnell schüttelte ich den Gedanken von mir ab, denn ich hörte Stimmen und schreckte hoch. So schnell ich konnte, brachte ich den Computer dahin zurück, wie ich ihn vorgefunden hatte und sprang auf. Sobald ich wieder auf der anderen Seite des Rezeptionstisches stand, kamen der Mann und Matteo aus der Tür an der Seite heraus.
„Wir haben nichts gefunden, Fräulein", sagte der Mann gleichgültig.
Entschuldigend sah ich ihn an. „Es tut mir total Leid, dass wir Sie gestört haben und danke für Ihre Hilfe. Aber ich habe den Schlüssel gefunden. Er war in meiner Jackentasche. Ich habe überall gesucht, aber nicht in der Jackentasche"
Ich untermalte das damit, dass ich den Schlüssel hochhielt, den ich noch von gestern hatte, verdeckte aber die Nummer des Lagerraums.
Genervt verdrehte der Mann die Augen und setzte sich dann wieder auf seinen Platz. Ohne uns noch einmal anzuschauen, tippte er weiter auf seinem Computer rum.
Ich selbst ging zum Treppenhaus und lief die Treppen hoch. Matteo folgte mir wortlos, neugierig darüber, was ich soeben erfahren hatte und ob ich überhaupt etwas Neues wusste. Ich wünschte, ich müsste es ihm nicht sagen, doch er musste es ohnehin irgendwann erfahren.
Oben suchte ich erneut den Raum 187 und schloss ihn auf. Eilig zog ich die Tür nach oben und betrat den Raum. Ich wusste zwar nicht, was ich erwartet hatte, aber nicht das. Gestern war zwar wenig in dem Raum, und zwar eine Isomatte mit Decke, ein Schreibtisch mit einem Hocker und dann noch ein Aktenschrank mit sämtlichen Akten. Doch jetzt war alles weg. Der Lagerraum war leer. Keins von den Möbelstücken war noch da, was bedeutete, dass irgendwer nach uns hier gewesen war.
Verzweifelt griff ich mir in die Haare und hockte mich hin. Das konnte doch alles nicht wahr sein. Die Akten hätten wichtig sein können. Ich ärgerte mich ungemein darüber, dass ich keine eingepackt hatte. Wenigstens unsere beiden und die von unseren Vätern.
„Siena. Irgendwer war hier", sprach Matteo das Offensichtliche aus.
Ich stand wieder auf und schaute ihn an. „Es ist alles weg"
Dann blickte ich an die Stelle gegenüber an der Wand, wo gestern noch der Aktenschrank gestanden hatte. Ich lief dorthin und schlug leicht gegen die Wand.
„Scheiße", fluchte ich und rieb mir durch das Gesicht.
Matteo gesellte sich neben mich.
„Wem gehört dieser Lagerraum?", fragte er.
Da war die Frage, vor der ich mich in den letzten Minuten gefürchtet hatte. Ich gab mein Bestes, nicht in die Richtung von Matteo zu schauen und schwieg noch eine Weile. Doch ich konnte seinen erwartungsvollen, flehenden Blick auf mir spüren und ich wollte ihn auch eigentlich nicht mehr länger auf die Folter spannen.
Also erwiderte ich traurig seinen Blick. „Er gehört deinem Vater"
Matteo ließ die Antwort auf sich wirken. Er ließ sie sacken. Dabei schaute er mich mit diesem schrecklich, verzweifelten Blick an, den ich beinahe nicht aushielt.
„Es tut mir leid.", fügte ich noch hinzu.
Doch er sagte noch immer nichts. Und ich konnte seinen Blick nicht mehr ertragen, weshalb ich den Abstand zwischen uns schloss und ihn fest umarmte. Er wartete ein paar Sekunden, doch schließlich legte auch er seine Arme um mich und drückte mich an sich. Eine Weile lang standen wir da. Meinen Kopf hatte ich auf seine Schulter gelegt, wofür ich etwas auf den Zehenspitzen stehen musste.
Irgendwann lösten wir uns wieder voneinander. Wir standen schweigend im Raum herum und ich steckte meine Hände in meine Jackentaschen. Und dann beobachtete ich, wie der Gesichtsausdruck von Matteo sich veränderte. Die Verzweiflung wurde zu einer Unnahbarkeit, von der ich sofort wusste, dass sie gegen mich gerichtet war.
Doch bevor ich nachfragen konnte, was er dachte, schaute er mich kurz mit diesem komischen Blick an und stürmte dann aus dem Lagerraum. Ich wusste kurz nicht, was ich tun sollte, schloss den Raum dann aber hinter mir eilig ab und folgte Matteo schnell.
Allerdings konnte ich ihn erst wieder erreichen, als er schon vor seinem Auto stand und seine Arme vor der Brust verschränkt hatte.
„Gegen dich will ich auch keinen Marathon laufen", versuchte ich die Stimmung zu lockern, während ich etwas außer Atem war.
„Das muss dir gefallen haben", erwiderte Matteo nur. Fragend blickte ich ihn an. Gerade wusste ich echt nicht, wo er drauf hinaus wollte
Er fuhr fort. „Es muss dir gefallen haben, den Namen meines Vaters dort zu lesen. Immerhin hast du mir die ganze Zeit gepredigt, meine Familie wäre so schrecklich."
Ich seufzte. Es war verständlich, wie er auf diesen Gedanken gekommen war. Ich hab ihm die gesamte Zeit eingetrichtert, dass seine Eltern was damit zu tun hätten und ich könnte ihn diesen Fund jetzt um die Ohren werfen. Doch ich wusste, wie wichtig ihm seine Familie war und etwas Sensibilität hatte ich noch, auch ihm gegenüber.
„Ich gebe zu, ich habe die ganze Zeit gesagt, es wäre deine Familie und der Fund des Mieters unterstreicht meine Meinung. Aber das heißt doch nicht, dass es mir gefällt"
Er wirkte nicht, als würde er mir glauben.
„Matteo wirklich. Mir gefällt das für dich wirklich nicht. Und deine Eltern haben mir technisch gesehen persönlich ja nie was getan", versicherte ich ihm weiterhin. „Ich bin ehrlich, ich kann dir nicht sagen, dass ich nicht glücklich bin, etwas weitergekommen zu sein, aber ich hätte für dich irgendwie schon gehofft, dass es nicht so hätte laufen müssen"
Matteo nickte nur. „Zumindest bist du ehrlich"
„Und denk dran. Es ist nichts sicher bewiesen, bis wir Tiziana nicht gefunden haben"
Ich strich ihm mitfühlend über den Arm. Er hielt meine Hand kurz fest und drückte sie. Dann ließ er sie wieder los und ich ließ meine ebenfalls sinken.
Und ich räusperte mich. „Außerdem ergibt das alles keinen Sinn"
Verwirrt schaute Matteo mich an.
„Naja", erklärte ich mich. „Überleg doch mal. Erstens. Die Akten waren im selben Raum, wo Tiziana anscheinend festgehalten wurde. Außer natürlich da hat einfach nur jemand geschlafen, aber das bezweifele ich ehrlich gesagt. Also wieso sollte man wichtige Unterlagen am selben Ort festhalten, wo die entführte Person sich ebenfalls aufhielt. Dein Vater hat genug Geld, um zwei Orte oder Räume dafür anzumieten. Oder bestenfalls die Akten an einem viel sicheren Ort aufzubewahren."
„Stimmt", pflichtete Matteo mir bei. „Er könnte zwei Häuser dafür kaufen, wenn er wollte"
Ich nickte beschwingt. „Genau, das meine ich. Und zweitens. Ich kenne deinen Vater nicht wirklich, aber ich bin mir sicher, er wäre intelligenter als das. Man entführt doch keine Person und versteckt sie in einem Lagerraum, den man mit seinem eigenen Namen gemietet hat. Dafür gibt man doch irgendeinen falschen Namen an. Jedenfalls würde ich das so machen"
Matteo war wieder ganz bei der Sache und man konnte sehen, wie es in seinem Kopf ratterte. „Du hast Recht. Aber wieso dann?"
Ich überlegte ebenfalls. Ich suchte meinen ganzen Kopf nach Möglichkeiten ab, was der Grund dafür sein konnte. Und irgendwann schlug ich einfach die vor, die mir eingefallen waren. „Entweder er hat es mit Absicht gemacht, was wirklich eiskalt wäre oder jemand benutzt seinen Namen."
„Wie sicher ist es, dass es die zweite Option ist?", fragte Matteo hoffnungsvoll.
Ich zuckte nur mit den Schultern. „Fünfzig zu fünfzig. Oder es ist etwas ganz anderes"
Er dachte über meine Antwort nach.
Ich unterbrach schnell seinen Gedankengang, bevor er sich zu sehr an einer Option fest klammerte. „Hey, es sind bis jetzt alles nur Mutmaßungen. Ich will auch nicht, dass du falsche Hoffnungen bekommst. Hör zu. Wir suchen erst einmal noch weiter. Ohne Tiziana zu finden können wir es eh nur schwierig herausfinden"
Matteo stimmte mir zu.
Dann standen wir eine Weile nebeneinander. Diese Momente der Stille, die so häufig auftraten, mussten echt weniger werden.
Aber Matteo beendete diese jetzt auch. „Also war doch was Wichtiges in diesem Aktenschrank"
Mist, dachte ich mir. Das hatte ich ganz vergessen. Ich hatte ihm gestern gar nicht berichtet, was ich in den Akten gelesen hatte. Und ich musste es ihm jetzt sagen. Es wäre nicht fair, das weiterhin für mich zu behalten.
Ich wischte mir mit einer Hand über das Gesicht und schaute Matteo direkt an. „Dort waren Akten von sämtlichen Mitarbeitern der Banken unserer beiden Familien. Und von uns allen. Deine Geschwister. Giovanni. Du. Ich. Meine Eltern und deine Eltern.
Die meisten Akten, auch die von unseren Geschwistern und uns, waren relativ unspektakulär. Aber die unserer Väter waren interessanter"
„Inwiefern interessanter?", fragte Matteo neugierig.
Ich räusperte mich. „Okay. Bitte, versprich mir, dass du erst einmal nichts darüber sagen wirst, bis ich mein Okay gebe"
Matteo rollte mit den Augen. Doch er antwortete, nachdem er meinen drängenden Blick sah. „Ich verspreche es"
„Also", erzählte ich nun. „Vor sieben Jahren kam die Banca Mancini in eine Krise. Die Finanzen liefen nicht gut und die Bank war beinahe bankrott. Das hatte schwere Auswirkungen auf die Firma. Und mein Vater hat alles getan, um sich und seine Arbeit zu retten und hat etwas getan, was wirklich ein Vertrauensbruch für eine Bank ist. Ich hab es neulich erst erfahren und konnte es wirklich nicht glauben, dass sie zu so etwas fähig waren,
Auf jeden Fall. Sie haben sich irgendwann an den Konten der Kunden bedient, um aus der Krise rauszukommen. Mittlerweile sind sie wieder raus und haben insgeheim auch alles wieder zurückgegeben, aber es war nun mal ein noch verheimlichter Skandal.
Dein Vater hat dann halt herausgefunden, was vor sich ging und hat meinen Vater konfrontiert. Mein Vater hat ihn mit irgendwas gedroht und er hat es danach auch kein weiteres Mal erwähnt. Womit er gedroht hat, will ich noch herausfinden."
Nachdem ich beendet hatte schaute ich auf den Boden. Doch Matteo reagierte anders, als ich erwartet hatte.
„Naja, sie haben das getan, was sie in dem Moment gedacht haben, dass das Richtige wäre. Aber das ergibt Sinn, wieso dein Vater so überzeugt ist, dass mein Vater etwas mit der Entführung zu tun hat. Er denkt, dass das wegen dem Wissen von der Krise ein Schlag gegen eure Bank sein soll."
„Es würde Sinn ergeben.", sagte ich nur.
„Aber wie du vorhin meintest. Ohne Tiziana ist noch nichts sicher. Also lass uns erst einfach weitermachen, bevor wir weitere Schlüsse ziehen."
Erleichtert nickte ich und lächelte ihn leicht an. Er erwiderte mein Lächeln.
Ich war froh und ihm wirklich dankbar, dass er das erst einfach runter schluckte. Er hätte es auch ausnützen können, doch er hatte es nicht. Ich wusste nicht, ob ich die Stärke gehabt hätte.
Mein Lächeln erstarb schnell. Denn als ich über Matteos Schulter hinweg sah, sah ich Marco. Er war ein Arbeitskollege meines Vaters und einer der Mitwisser der Krise vor sieben Jahren. Panik stieg in mir auf, denn ich wollte keinesfalls, dass er mich hier sah. Dazu wusste ich nicht mal, warum er überhaupt hier war. Ich war mir sicher, es gab bessere Gebiete, wo jemand wie Marco sich aufhalten würde. Zumindest freiwillig.
Er lief gerade an dem Lagerhaus vorbei, aus dem wir eben rausgekommen waren und lief in unsere Richtung. Nicht mehr lange und dann wird er bei uns sein und mich mit großer Sicherheit erkennen.
Voller Panik blickte ich zu Matteo, der mich verwundert und leicht besorgt anschaute.
„Was ist los?", flüsterte er.
Ich deutete ganz leicht hinter ihn. „Hinter dir ist ein Arbeitskollege meines Vaters. Er darf mich auf keinen Fall hier sehen"
Marco war nicht mehr weit entfernt. Ich versuchte mich klein zu machen und mich irgendwie in meiner Jacke zu verstecken, doch ich wusste, dass das nicht helfen würde.
Plötzlich spürte ich, wie ich an das Auto von Matteo gedrückt wurde. Ich schaute verwirrt hoch und spürte auf einmal, wie Matteo seine Lippen auf meine drückte. Ich war am Anfang noch kurz davor, ihn wegzudrücken, doch ich verstand schnell, was er vorhatte. So würde Marco mich vielleicht nicht erkennen, weil er das knutschende Paar nicht anstarren wollen würde.
Also erwiderte ich Matteos Kuss und öffnete meinen Mund. Er vertiefte den Kuss nun und legte seine Hände an meine Wangen, wobei er mein Gesicht versuchte, so gut es geht zu verdecken. Dabei spielten seine Lippen mit meinen und ich fing an, mich darin zu verlieren.
Wir bewegten unsere Lippen in einem einheitlichen Rhythmus und irgendwann spürte ich, wie er langsam mit seiner Zunge sich ran tastete. Ich berührte seine Zunge mit meiner und sie verschlangen sich sofort ineinander.
Seine eine Hand wanderte zu meinem Rücken und drückte mich an sich, während er mich gleichzeitig ans Auto presste, sodass ich komplett dazwischen eingequetscht war. Aber ich beschwerte mich nicht, weil ich es gut fand. Ich würde lügen, wenn ich sagen würde, dass mir das hier gerade überhaupt nicht gefiel.
Ich hatte meine Arme um seinen Nacken gelegt und eine Hand in seine Haare. Während wir immer verspielter wurden, verging die Zeit immer schneller. Mittlerweile musste Marco längst fort sein und doch standen wir noch immer in unseren Armen und küssten uns.
Doch irgendwann klärte sich mein Verstand wieder und ich löste meinen Mund von seinem. Ein paar Sekunden standen wir noch nah beieinander und hielten uns fest, während wir schwer atmeten. Doch dann befreite ich mich eilig aus seinen Armen, quetschte mich zwischen ihm und dem Auto heraus und brachte Abstand zwischen uns.
Ich dachte noch einmal nach, was gerade passiert war. Etwas was als Ablenkungsmanöver begonnen hatte, hat sich in etwas verloren, was zwischen uns nicht passieren hätte dürfen.
Dazu wusste ich nicht, ob ich was sagen sollte und auch Matteo sah nicht so aus, als ob er wüsste, was jetzt angebracht wäre. Wir beide starrten uns also nur an, unschlüssig über die nächsten Schritte.
Er fand als erstes seine Sprache wieder. „Siena -."
Doch bevor er weiterreden konnte, hob ich meine Hand und stoppte ihn sofort wieder. „Rede nicht weiter. Wir haben heute ausgeredet, mein Freund"
Er schaute mich ungläubig an. „Ich weiß nicht, ob es nicht vielleicht besser wäre, wenn wir noch einmal darüber reden."
„Nein, Matteo. Es war nur ein Kuss und nichts mehr. Lass uns fahren", stritt ich ab und lief in Richtung der Beifahrertür und setzte mich ins Auto.
Auch Matteo setzte sich links neben mich und schaute mich an. „Du willst mich doch verarschen, wenn du mir sagen willst, dass das nichts war"
„Matteo, hör auf irgendwelches Gesülze zu reden und fahr. Ich möchte nach Hause"
Matteo seufzte. Aber dann fuhr er los und wir redeten die gesamte Fahrt kein Wort. Ich hatte meine Beine hochgezogen und auf den Sitz gestellt. So konnte ich meine Beine umschlingen, meinen Kopf auf die Knie legen und aus dem Fenster schauen. Ich beobachtete, wie die Häuser und Fußgänger an mir vorbeirauschten und wartete, bis ich endlich meine Nachbarschaft wieder erkannte.
Schließlich standen wir vor meiner Haustür. Eilig öffnete ich die Tür und verabschiedete mich nur halbherzig von Matteo. Dieser murmelte nur ein Abschied und ich schloss die Autotür. Doch er fuhr nicht los. Während ich also die kleine Treppe nach oben stieg und die Tür zu meinem Haus aufschloss, stand er da und beobachtete mich. Ich schaute noch einmal zurück und wir schauten uns kurz gegenseitig in die Augen, doch dann verschwand ich in meinem Haus.
Tief atmend lehnte ich mich gegen die nun geschlossene Tür. Nachdem ich mich gesammelt hatte, eilte ich nach oben und schloss mich in mein Zimmer ein. Ich brauchte jetzt ganz dringend meine Ruhe.

I Hate it to love youBut I doWo Geschichten leben. Entdecke jetzt