Kapitel 19: Im Thronsaal

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Einst war der heilige Baum ein Ort des Friedens, der Entspannung und Erhabenheit gewesen. Seltene Vögel zwitscherten in seinen Zweigen, Künstler durchwanderten die Gärten auf der Suche nach Inspiration, Priester vollführten komplexe Rituale in den Tempeln und weise Politik wurde geführt.

Nichts davon war mehr zu spüren.

Elfen drängelten sich auf den Treppen, Balkonen und in den Versammlungshallen. Verwundete stöhnten auf behelfsmäßigen Betten, Kinder suchten weinend nach ihren Eltern und die Massen pressten sich in die heiligen Stätten, um auf Knien zu beten.

Damaisa und Numantia stolperten sogar fast über eine Leiche, die die Fliehenden niedergetrampelt hatten. Sie waren inzwischen so hoch, dass sie die Feuer der Stadt unter sich sehen konnten. Die Menschenarmee selbst war eine dunkle Masse, die sich durch jede Straße presste wie Gift in einem Blutkreislauf.

Nahe dem Palast wurde es weniger chaotischer. Nur wenige Flüchtlinge waren bis hier hochgestiegen. Keine Wache blockierte ihren Weg. Nur einige Bedienstete hockten hier und dort und weinten vor sich hin.

Sie eilten durch die Galerie mit den Wandmalereien der Vergangenheit und erreichten den Thronsaal, um die Zukunft zu bestimmen. Die Torflügel waren leicht geöffnet und sie warfen sich regelrecht dagegen, um vollends hineinzugelangen.

»Ah, eine Audienz um diese Tageszeit?«, begrüßte sie eine warme Stille.

Königin Linith stand bei ihrem schwarzen Thron. Sie trug ein Trauerkleid aus Rabenfedern und an ihren Wangen waren dunkle Rinnsale von ihrer dunklen Schminke, geformt durch Tränen. Ihr Haar war ein wildes Durcheinander und ihr Blick wanderte zu den beiden Elfenmädchen hinüber.

»Meine Königin«, stammelte Damasia und fiel vor ihrer Monarchin auf die Knie. »Ich überbringe gute Kunde. Wir können den heiligen Baum und unser Volk retten. Wir brauchen nur...«

»Ach, wie schön es wäre wieder so unbedarft jung zu sein«, kicherte die Elfenherrscherin, »was für Unsinn sagt ihr nur? Wieso muss der Baum und unser Volk gerettet werden? Seht Ihr nicht, wie herrlich der Tag ist?«

»Meine Königin...?«

Königin Linith trat zu einem der offenen Fenster des Thronsaals, der halb aus Rinde und halb aus Marmor bestand, und schaute hinab zur fallenden Stadt. »Seht ihr nicht die Freudenfeuer meines Volkes? Seht ihr nicht die fernen Horizonte, die wir beherrschen. Ja, ich muss mal wieder die Provinzen und die Wälder des Nordens besuchen. Habt ihr eigentlich meinen Sohn Taranis gesehen? Er hat mich seit einer Weile nicht besucht.«

Die beiden Elfenmädchen sahen sich an.

»Meine Königin«, begann nun Numantia zaghaft. »Die Menschen. Sie sind an den Toren. Wenn wir nichts tun, dann wird...«

»Menschen? Haben wir einige von ihnen eingeladen? Wie merkwürdig. Ich brauche dann auf jeden Fall ein starkes Parfum, um den Gestank der Sterblichen nicht wahrzunehmen. Ach, wie können sie uns nur äußerlich so ähnlich und doch so unhygienisch sein. Bitte schickt nach Taranis. Er soll sie empfangen und sich erkundigen, was sie nach Galea geführt hat.«

»Meine Königin, der Prinz... er ist gefallen... in der Schlacht...«

»Ach, hat mein Sohn wieder Krieg gespielt mit einigen der jungen Patrizier? Manchmal habe ich das Gefühl er sehnt sich eine Rebellion der Menschen regelrecht herbei. Deswegen ist es umso wichtiger, dass wir die heutigen Gäste nicht allzu sehr vergraulen. Sollen sie stattdessen von den Wundern unserer Kultur erstaunt werden! Wenn sie all die Pracht hier sehen, werden sie sicherlich erkennen, wie gut sie es haben unter unserer Herrschaft zu leben...«

»Sie ist wahnsinnig«, meinte Damasia leise. »Sie hat ihren Verstand verloren.«

»Was sollen wir tun?«, fragte Numantia. »Wie sollen wir sie überzeugen? Wir können wir ihr den Spruch beibringen?«

Ein hundertfachtes Brüllen ertönte vom Fuß des Baums und hallte bis hier hoch hinauf. Die erste Welle aus Menschen schmetterte gegen die verbliebene Garde um Präfekt Tiberius.

»Wir haben keine Zeit«, entgegnete die rothaarige Elfe und zog mit zittrigen Fingern ihren Dolch. »Keine Zeit.«

»Was?« Numantia sah ihre Freundin verständnislos an. Doch schnell begriff auch sie. »Nein, wir können nicht. Wir...«

»Uns wurde diese Verantwortung gegeben, Numi. Dies ist wichtiger als ein einzelnes Leben. Wichtiger als selbst die Königin. Wichtiger als unsere Loyalität. Wir müssen es tun.«

Die blonde Elfe zögerte noch, doch dann hörte sie erneutes Kanonendonnern und sie spürte ein leichtes Zittern im Boden. Die ersten Metallkugeln hatten sich in den Stamm des Baumes gebohrt. So nahe war die Artillerie der Sterblichen schon. Mit einem Schluchzen zog sie auch ihren Dolch.

Zusammen traten sie zu Königin Linith.

»Ah, was gibt es noch?«, fragte die Monarchin ganz unbekümmert. »Hat mein Sohn schon geantwortet?«

»Verzeiht uns«, sagten die beiden Elfen zusammen und hoben ihre Waffen.

Dies würde das erste Mal sein, dass sie während dieses Krieges ein Leben nahmen.


Die Grenzen des WaldesWo Geschichten leben. Entdecke jetzt