KAPITEL 22 ✶ Die Interviews ⌠Teil I⌡

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Twyla Elway ⌠ Distrikt Sechs ⌡


Trotz ihres luftigen Kleides und dem leisen Surren der Klimaanlage, die irgendwo zwischen den Schatten gerade auf Hochtouren laufen musste, war Twyla hinter der Bühne unglaublich heiß. Ständig hatte sie das Bedürfnis, sich mit den Händen durchs Gesicht zu wischen, doch das hysterische Fauchen ihrer Stylistin, nachdem sie zum ersten Mal ihr Make-up ruiniert hatte, dröhnte noch immer in ihrer Erinnerung und hielt sie davon ab.

Das Interview war von Anfang an der Teil der Vorbereitungsphase gewesen, vor dem Twyla sich am meisten gefürchtet hatte. Das grelle Scheinwerferlicht, die viel zu intimen Fragen, und die bohrenden Blicke tausender Menschen, die jede noch so flüchtige ihrer Bewegungen verfolgen würden ... allein der Gedanke ließ ihr Herz wie wild gegen ihre Rippen hämmern und ihre Kehle restlos austrocknen. Auf dieser Bühne würde sie quasi mitten auf dem Präsentierteller sitzen. Da konnten sie sie auch gleich in ein Gehege voller ausgehungerter Wölfe schmeißen ...

Die Parade war ja schon schlimm genug gewesen, aber da hatte man zumindest nicht von ihr verlangt, irgendwelche belanglosen Fragen zu beantworten! Sie hatte einfach bloß dastehen, vor sich auf die Straße starren, und durchhalten müssen, aber das hier? Das war nichts weiter als ein weiterer sadistischer Spaß, den das Kapitol sich erlaubte, um sie wie Zirkustiere vorzuführen.

Doch was nützte es schon, sich darüber zu beschweren? Ändern konnten sie es ja sowieso nicht. Manchmal musste man Dinge eben einfach ertragen, auch wenn es nicht besonders angenehm war.

Und mittlerweile konnte Twyla zumindest von sich behaupten, ganz gut im Ertragen geworden zu sein.

Sie hatte sich daran gewöhnt, im Hintergrund zu bleiben, brav zu schweigen, und nicht allzu sehr aus der Masse herauszustechen. Hatte ihren Pony auswachsen lassen, um sich besser dahinter verstecken zu können, und nach all den Jahren war es selbst den gehässigsten Kindern zu blöd geworden, sie jeden Tag zu fragen, wann denn endlich die Hexe vorbeikommen würde, um sich ihr Molchauge zurückzuholen. Manchmal musste man einfach nur ausharren, dann löste sich das Problem ganz von allein. Twyla stellte sich nicht mehr quer, wenn die Erzieher ihr irgendwelche Arbeiten aufhalsten, auf die sie selbst keine Lust hatten, weil sie wusste, dass ihr die Alternative noch sehr viel weniger gefallen würde.

Jeder Schlag, jede Bestrafung ging irgendwann vorüber.

Man musste sie einfach bloß ertragen und ausharren.

Nervös leckte Twyla sich über die Lippen und vergrub ihre Finger im steifen, kreppartigen Stoff ihres Kleides. Es war in einem matten Grau gehalten, und der ausgestellte Rock ging ihr etwa bis zu den Knien. Noch zusätzlich aufgebauscht wurde das Ganze von halbdurchsichtigem Tüll, aus dem auch ihre Ärmel bestanden, und hier und da schimmerten sogar ein paar silbrige Glitterpartikel hindurch, wie frisch gefallener Schnee in der Morgensonne.

Twylas Stylistin hatte gemeint, dass dieses Kleid ihre bescheiden-schlichte Ausstrahlung untermalen sollte – was im Prinzip nichts anderes bedeutete, als dass sie sie für stinklangweilig hielt und keine Ahnung hatte, was sie ihr für ein Image verpassen sollte. Nun ja, Twyla sollte das recht sein. So lange sie weiterhin durchs Raster fiel, durfte diese eigenartige Frau aus dem Kapitol sie ruhig hassen.

Unweigerlich schweifte ihr Blick herüber zu Lucas, der neben ihr stand, und sie wie immer gekonnt ignorierte. Seine Augen waren konzentriert auf den Vorhang gerichtet, der in wenigen Minuten zur Seite gezogen und den ersten Tribut auf die Bühne lassen würde. Wahrscheinlich ging er in Gedanken gerade alle möglichen Fragen durch ... oder er überlegte sich schon mal, wie er am Füllhorn vorgehen sollte. Twyla hatte keine Ahnung, was im Kopf ihres schweigsamen Partners vor sich ging, und wenn sie ehrlich war, dann war es ihr mittlerweile auch egal.

me & the devil ✶  Die 59. Hungerspiele  ⌠mmff⌡Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt