KAPITEL 10 ✶ Die Ernte in Distrikt Eins

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Saint Irideo

Das unermüdliche Schrillen seines Weckers riss Saint aus einem tiefen, traumlosen, und unheimlich wohltuenden Schlaf. Ein langgezogenes Stöhnen drang aus seiner Kehle, als er wahllos nach einem Kissen griff und es sich auf die Ohren presste, doch auf Dauer war das natürlich keine Lösung. Am liebsten würde er das Ding jetzt einfach gegen die nächste Wand schmettern und dann wieder unter seine Decke schlüpfen, doch dafür müsste er sich ja erst mal aufraffen ...

So eine Scheiße. Bei dem ganzen Geplärre kam man ja nicht mal in Ruhe dazu, sich darüber aufzuregen!

Saint verzog das Gesicht und drehte sich mühsam auf den Rücken. Seine Augen waren noch immer geschlossen, das grelle Sonnenlicht, das durch sein Zimmerfenster fiel, konnte er auch so auf seinem Gesicht spüren, weshalb er bei dem Versuch, blind nach dem Aus-Knopf seines Weckers zu tasten, irgendetwas umstieß, was kurz darauf mit einem ohrenbetäubenden Klirren auf dem Boden zerschellte.

Na, wunderbar. Genau so etwas hatte er jetzt gebraucht. Welcher Idiot hatte ihm denn bitte ein Glas auf den Nachttisch gestellt?!

Die Stille, die das Zimmer erfüllte, nachdem Saint es endlich geschafft hatte, seinen Wecker zum Schweigen zu bringen, klang wie Musik in seinen Ohren. Es wäre ja auch wirklich zu viel verlangt gewesen, in diesem Haus zur Abwechslung mal seinen Kater ausschlafen zu dürfen, oder? Sein Körper fühlte sie an, als hätte man ihn mit einem Lastwagen überfahren, hinter seiner Stirn schien eine Kolonie winziger Bauarbeiter gerade die oberste Schicht seiner Schädeldecke mit Presslufthämmern zu bearbeiten, und jeder noch so flüchtige Ton, der seine Ohren erreichte, klang wie ein Kanonenschuss, der direkt neben seinem Kopf abgefeuert wurde.

Und das alles um Viertel vor zehn Uhr morgens!

Normalerweise würde es Saint im Traum nicht einfallen, sich vor zwölf aus dem Bett zu quälen, schon gar nicht an einem Feiertag, aber der Ernte fand nun einmal am frühen Nachmittag statt. Und wenn er vorher noch einmal ausgiebig frühstücken und sich zurechtmachen wollte ...

Das war einfach nicht fair. Schließlich gab es in diesem Distrikt auch Leute, die am Abend vor der Losung noch mal ordentlich auf den Putz hauen wollten!

Die inoffizielle Vor-der-Ernte-Party, die jedes Jahr auf dem geradezu pervers protzigen Anwesen von Heliodora Reveries Eltern stattfand, durfte man sich auf gar keinen Fall entgehen lassen, wenn man etwas auf sich hielt. Und obwohl dort theoretisch auch Gäste über achtzehn willkommen waren, war es schon irgendwie etwas Besonderes, wenn man wusste, dass es die letzte eigene Ernte war. Ganz besonders für Saint, denn er würde in diesem Jahr wohl oder übel auf die Nach-der-Ernte-Party verzichten müssen – schließlich würde er zu dieser Zeit bereits im Zug Richtung Kapitol sitzen.

Okay, vielleicht hatte er es gestern wirklich ein klein wenig übertrieben. Aber wieso auch nicht?! So ein paar Kopfschmerzen waren schließlich nichts, was man mit einem heißen Bad und einer halben Packung Tabletten nicht wieder hinbiegen konnte. Und außerdem war es ja nicht so, als könnte er sich an überhaupt nichts mehr erinnern!

Saint war sich ziemlich sicher, dass an diesem Abend nicht nur Alkohol im Spiel gewesen war, und was auch immer er ansonsten für lustige bunte Pillen geschluckt hatte, schien ihn offenbar dazu animiert zu haben, beim Flaschendrehen gleich in der ersten Runde mit Shimmer Daniels rumzuknutschen. Die war für so etwas schließlich immer zu haben. Und damit er sich nicht ausgeschlossen fühlte, hatte er sich kurz darauf auch noch ihren Freund vorgenommen. Später war da noch so eine kleine Rothaarige gewesen, die wie ein Kolibri auf Crack über die Tanzfläche gezischt war, und ein Kerl, der doppelt so breite Schultern wie er und ein Zungenpiercing besessen hatte, dass er definitiv als Highlight seines Abends bezeichnen würde ... aber da hörten seine Erinnerungen dann auch auf. Zumindest hatte Saint dieses Mal noch sein Shirt angehabt, als er wieder nachhause getorkelt war. Und was in Heliodora Reveries Gästezimmer passierte, das blieb für gewöhnlich auch in-

me & the devil ✶  Die 59. Hungerspiele  ⌠mmff⌡Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt