KAPITEL 26 ✶ Alles nur für dich

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Lina Seria ⌠ Distrikt Sieben ⌡


Ob Lina ihre Entscheidung bereute?

Um ehrlich zu sein war das eine Frage, die sie sich im Augenblick lieber nicht stellen wollte. Dann müsste sie sich nämlich mit der Bedeutung ihrer Antwort auseinandersetzen, und so etwas wie Skrupel oder gar Schuldgefühle nützten ihr momentan wirklich gar nichts.

Genauso wenig nützte es ihr, sich den Kopf darüber zu zerbrechen, was hätte sein können, wenn sie Tomaths Plan einfach befolgt hätte.

Es gab Wichtigeres, worüber sie nachdenken sollte.

Allzu viel hatten sie von der Arena bisher noch nicht zu Gesicht bekommen, und das lag nicht bloß an der Nebelwand, die es ihnen so gut wie unmöglich machte, weiter als fünf Meter in die Ferne zu blicken. Sobald man die schlammige Füllhornlichtung erst einmal hinter sich gelassen hatte, fand man sich in einem tiefen, dicht bewachsenen Nadelwald wieder. Wenn Lina sich nicht irrte, wuchsen hier in der Umgebung hauptsächlich Fichten, der Nadelform nach zu urteilen, und der Boden war von nassem Laub, Strauchgestrüpp, und herumliegendem Totholz bedeckt. Das Auffälligste war jedoch, dass der Untergrund hier teilweise rapide abfiel, und an einigen Stellen sogar richtige Hänge bildete. Die meisten waren nicht sonderlich tief, aber wenn jemand auf der Flucht nicht auf seine Füße achtete und unglücklich stürzte, konnte man wahrscheinlich von Glück reden, wenn man sich gleich das Genick brach und nicht noch tagelang mit gebrochenen Gliedern dort unten lag, bevor irgendein vorbeikommenden Tribut einen von seinen Schmerzen erlöste ...

Am Fuße einer dieser Hänge hatten Tom und sie vor einer Weile ihr Lager aufgeschlagen - auch wenn Lina das Wort ›Lager‹ eigentlich lieber nicht verwenden würde, denn sie hatte wirklich nicht das Bedürfnis, hier die Nacht zu verbringen. Mit der Felswand in ihrem Rücken war die Stelle zumindest windgeschützt, und es gab auch einen umgekippten Baumstamm, auf den man sich setzen konnte, statt sich direkt auf den feuchten Waldboden hocken zu müssen. Eine Erkältung oder gar Blasenentzündung war in den Hungerspielen nun wirklich das Letzte, was man sich einfangen wollte.

Außerdem konnte man sich im hohen Strauchwerk auch einigermaßen gut verstecken. Das einzige Problem war die Lage: der Hang befand sich höchstens hundert Meter vom Füllhorn entfernt und das Ausklingen des morgendlichen Gemetzels hatten sie sogar noch bis hierher hören können. Wenn die Karrieros, von denen sie sich ziemlich sicher war, dass sie am Füllhorn wie jedes Jahr ihren Stützpunkt einrichten würden, auf die Idee kamen, in der Nähe ihre Runden zu drehen, dann würden sie wahrscheinlich nicht einmal bemerken, wenn sie sie von oben angriffen.

Auf den ersten Blick hatte Lina am Füllhorn zwar keinen Bogen gesehen ... aber das musste nicht unbedingt etwas heißen. Und wenn die Karrieros trotzdem irgendwie an einen herangekommen waren, dann waren sie so gut wie tot.

Den drei Kanonenschüssen nach zu urteilen, die nach dem Blutbad erklungen waren, schien dem Großteil der Tribute allerdings die Flucht gelungen zu sein, und das trotz der erhöhten Rutschgefahr und steilen Gefälle. Das war ziemlich ungewöhnlich für ein Füllhorn. Aber die Spielmacher würden sich davon garantiert nicht entmutigen lassen. Vermutlich würden sie die Schwierigkeit in den kommenden Tagen einfach erhöhen, wenn es ihnen zu langweilig wurde ...

Und außerdem waren das immer noch drei Tode gewesen.

Drei Kinder, die nie wieder nachhause zurückkehren, die Sommersonne auf ihren Wangen, und den Wind in ihren Haaren spüren würden.

Drei Kinder, deren Eltern und Freunde den Anblick ihrer leeren, vor Panik noch immer geweiteten Augen nie wieder aus ihrem Gedächtnis verbannen können würden.

me & the devil ✶  Die 59. Hungerspiele  ⌠mmff⌡Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt