Boris Blackam
Als die ersten Sonnenstrahlen sich endlich ihren Weg hinunter in den Minenschacht bahnten und über seine Augen herfielen, konnte Boris nicht anders, als die Lider zusammenzukneifen und sich mit gesenktem Kopf zur Seite zu drehen. Selbst der Kohlestaub tanzte träge im Licht auf und ab, doch für ihn hatte dieses Schauspiel bereits vor Jahren seine Schönheit verloren. Theoretisch existierten im Zwölften Distrikt zwar Gesetze, die besagten, dass niemand unter sechzehn Jahren in den Minen arbeiten durfte, aber praktisch ging es den meisten Leuten ziemlich am Allerwertesten vorbei, wie alt man war, so lange man mit beiden Händen eine Spitzhacke halten konnte. Boris selbst war mit fünfzehn zum ersten Mal in diesem Aufzug hinab in die Tiefe gefahren, und wenn er ehrlich war, dann war er auch der Meinung, dass er seine Familie damit mehr unterstützte, als er es mit einem Schulabschluss je gekonnt hätte. Das Lesen und Schreiben hatte ihm noch nie sonderlich gelegen.
Auch dass der Erntetag eigentlich ein freier Tag sein sollte, ganz besonders für die jüngeren Bergleute, interessierte hier kaum jemanden. Die Friedenswächter hatten Besseres zu tun, als irgendwelchen Jugendlichen hinterherzurennen, die sich hier unten noch etwas dazuverdienen wollten, das wusste jeder, und selbst wenn es nicht so wäre, konnte Boris nicht wirklich behaupten, eine Wahl gehabt zu haben. Sein Boss hatte allen, die am Erntetag noch eine Frühschicht übernahmen, eine beachtliche Prämie versprochen, und er wäre vollkommen wahnsinnig gewesen, die Gelegenheit nicht zu ergreifen. Bei fünf jüngeren Geschwistern, die daheim auf ihn warteten, musste er sich ohnehin jeden Bissen vom Munde absparen, und so eine Gelegenheit bekam er mit Sicherheit kein zweites Mal.
Nachdem die rußverpestete Lunge seiner Mutter voriges Jahr endgültig den Geist aufgegeben hatte, war Boris nun derjenige, der für seine Familie sorgen musste – oder das, was noch davon übriggeblieben war. An sich selbst zu denken hatte er bereits vor Jahren aufgegeben, und im Augenblick konnte er bloß hoffen, dass Nadya für die Kleinen noch ein paar Krümel hatte zusammenkratzen können, sodass sie zumindest etwas im Magen hatten, wenn er nachhause kam. Auf dem Rückweg würde er auf alle Fälle noch einmal beim Bäcker vorbeischauen und hoffen, dass er sich von der Prämie einen Laib Brot leisten konnte. Vielleicht wäre sogar ein kleines Stück Butterkuchen drin, das sie sich teilen konnten ... aber er wollte seine Hoffnungen lieber nicht allzu hoch ansetzen. Wenn er vor der Ernte noch schnell ein Bad nehmen und sich ein halbwegs salontaugliches – und vor allen Dingen sauberes – Hemd überwerfen wollte, dann musste er sich ohnehin beeilen.
Der Aufzug, mit dem die Bergleute im Schneckentempo aus der Grube gehoben wurden, und der von nichts weiter als ein paar rostigen Gitterstäben gesichert war, gab alle paar Meter ein gequältes Ächzen von sich, das sich wie ein Meißel in seinen Gehörgang zu bohren schien. Das Zittern der Plattform, auf der er dicht an dicht gedrängt mit gut zwanzig anderen Frauen und Männern stand, war Boris inzwischen gewohnt, aber irgendetwas war heute anders. Er hatte nun schon seit geraumer Zeit dieses eigenartige Gefühl im Nacken, so als würde ihn jemand ... beobachten?
Ohne so richtig zu wissen, was er erwartete, ließ Boris seinen Blick umherschweifen, und tatsächlich, zwischen all den müden, mit Ruß und Erde verschmierten Gesichtern, von denen die meisten deutlich älter aussahen, als sie in Wirklichkeit waren, blinzelte ihm ein Paar großer, dunkelbrauner Augen entgegen.
Unweigerlich lief ihm ein Schauer über den Rücken.
Er kannte das Mädchen nur flüchtig. Sie hieß Aliana und musste ungefähr in seinem Alter sein, mit dürrer Statur, einem auffälligen Muttermal am Kinn, und derselben aschig-braunen Hautfarbe wie die meisten Minenarbeiter aus dem Saum, ihn selbst mit eingeschlossen. Boris konnte sich nicht daran erinnern, in den vergangenen paar Monaten mehr als ein paar Worte mit ihr gewechselt zu haben, doch sie wirkte umgänglich, und schien ihre Arbeit auch normalerweise gewissenhaft zu erledigen.
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me & the devil ✶ Die 59. Hungerspiele ⌠mmff⌡
AdventureWir schreiben das Jahr der 59. Hungerspiele. Der Tag der Ernte hängt wie ein Damoklesschwert über den Köpfen der Familien, die in den zwölf Distrikten Panems tagtäglich um ihre Existenz fürchten. Denn wie jedes Jahr müssen auch diesmal vierundzwanzi...