KAPITEL 21 ✶ Die Bewertung

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Orfeo Lima ⌠ Distrikt Elf ⌡


Niemals hätte Orfeo sich träumen lassen, dass er sich trotz fließendem Wasser, genügend zu essen, und einem heilen Dach über dem Kopf so miserable fühlen könnte. All diese Dinge sollten doch eigentlich dazu beitragen, dass es ihm besser ging! In seinem bisherigen Leben hatte er, wenn überhaupt, höchstens eines dieser Privilegien auf einmal genießen dürfen. Er hatte gehungert, wenn die Rohre ausnahmsweise mal keinen schwarzen Schmodder ausspuckten, oder vergeblich einzuschlafen versucht, während ihm der Regen auf die Stirn tropfte, aber hier im Kapitol, wo es von allem zu viel und von nichts zu wenig gab, erwischte er sich manchmal tatsächlich dabei, wie er sich diese Zeiten zurückwünschte.

Was natürlich absolut wahnsinnig war, sobald er auch nur länger als eine Sekunde darüber nachdachte.

Draußen war es bereits dunkel geworden – oder zumindest wäre es das, wenn die blinkenden Neonreklamen unten auf den Straßen nicht den gesamten Himmel erleuchten würden – und die diesjährigen Vertreter des Elften Distriktes hatten es sich allesamt auf der viel zu edlen, viel zu weich gepolsterten Couch im Salon bequem gemacht. Bowie, Aurelia, Orfeo, und ihr Betreuer, der seinen Namen ganz zu Anfang bestimmt mal erwähnt hatte, doch da war Orfeo noch viel zu sehr damit beschäftigt gewesen, seinen nahenden Tod zu akzeptieren, um ihm zuzuhören, und seitdem hatte er auch nicht das Bedürfnis verspürt, noch einmal nachzufragen. Seinen Namen hatte der Typ mit Sicherheit auch längst vergessen.

Kurz zuvor hatte es Abendessen gegeben, die üblichen fünf Gänge mit Fisch, Fleisch, Gemüse, und unzähligen Saucen, aber Orfeo hatte vor Nervosität kaum einen Bissen herunterbekommen. Selbst jetzt musste er sich anstrengen, um die paar Brotkrumen nicht einfach vor sich auf den Kaffeetisch zu erbrechen.

Im Gegensatz dazu hatte Aurelia, obwohl sie sehr viel kleiner war, die Mahlzeit regelrecht heruntergeschlungen, auch wenn Orfeo sich ziemlich sicher war, dass sie genauso gestresst war wie er. Wahrscheinlich war das einfach ihre Art, damit umzugehen. Und im Gegensatz zu ihm war sie es ja schließlich auch gewohnt, immer genug zu essen zu haben.

Dass seine Distriktpartnerin die Tochter des Mannes war, für den sein eigener Vater sich bereits vor Jahren im wahrsten Sinne des Wortes totgearbeitet hatte, war Orfeo schnell klargeworden, nachdem der Name Wilson zum ersten Mal bei der Ernte gefallen war. Und vielleicht war es tatsächlich dieses Wissen, welches ihn bisher davon abgehalten hatte, sich länger mit ihr zu unterhalten ... Aurelia selbst machte eigentlich keinen schlechten Eindruck auf ihn, sie wirkte bloß etwas verschüchtert, und das konnte er ihr, um ehrlich zu sein, auch nicht wirklich verübeln.

Vielleicht war es aber auch die Tatsache, dass Bowie sich bereits sehr früh entschieden hatte, auf welchen seiner beiden Schützlinge er sich bei der Vorbereitung konzentrieren wollte – und das war ganz offensichtlich nicht Orfeo. Hielt sein Mentor ihn wirklich für so hoffnungslos, dass er sogar einer Zwölfjährigen mehr Chancen zurechnete als ihm? War das der Grund, warum Aurelia immer gleich wegsah, wenn sich ihre Blicke kreuzten? Weil sie es auch wusste? Weil es stimmte?

Von einem möglichen Bündnis zwischen ihnen war von Anfang an nie die Rede gewesen. Keiner von ihnen hatte diese Möglichkeit auch nur in Betracht gezogen, aber das war jetzt ohnehin nicht mehr von Belang. Aurelia hatte längst jemanden gefunden, der sich in der Arena um sie kümmern würde. Der Junge aus Zwölf wirkte nicht nur sehr freundlich und geduldig, sondern auch stark. Vielleicht beherrschte er sogar eine Waffe ... aber selbst wenn nicht, würde er ihr wahrscheinlich immer noch mehr Schutz bieten, als Orfeo sich selbst ganz allein.

Ihm hatte unterdessen noch niemand ein Bündnis angeboten. Oder mehr als ein paar Worte mit ihm gewechselt. War Orfeo tatsächlich so ein unsympathischer Typ? Die meisten anderen Tribute hatten sich bereits miteinander verbrüdert, während des Trainings hatte man überall kleine Grüppchen zusammenhocken sehen, nur er selbst schien nirgendwo dazuzugehören. Vielleicht hätte er sich einfach ein Herzen fassen und Aurelia fragen sollen, ob sie und ihr Partner ihn aufnehmen würden. Aber dafür war es jetzt zu spät, oder? Schließlich kannten die beiden ihn kaum. Wieso sollten sie ihm vertrauen? Oder er ihnen? Aber je länger er zögerte, desto schlechter standen seine Chancen. Es war ein verdammter Teufelskreis.

me & the devil ✶  Die 59. Hungerspiele  ⌠mmff⌡Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt