18. Kapitel - Die letzte Prüfung

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Er würde den Glühwürmchen folgen, egal wohin. Aber als sie ihn zu einer schwindelerregend hohen Klippe brachten, hoffte er trotzdem, dass es nur ein schlechter Scherz war.

Aber das war es nicht. Denn Kilian hörte das ohrenbetäubende Tosen von Wasser.

Die Glühwürmchen leuchteten ein letztes Mal auf, als wollten sie ihm bestärkend zuzwinkern, dann verpufften sie wie ein Feuerwerk.

"Warum gibt es heute bloß so viele Klippen?", stöhnte Kilian und verlangsamte seine Schritte. Enya, Darius und er waren den Glühwürmchen hinterhergerannt. Außer Atem und mit einem mulmigen Gefühl spähte er nun über die spitzen Felskanten. Die Felsen ragten wie Todespfeiler in die Höhe und der Spalt dazwischen war so tief, dass der Grund weit unter der Erde liegen musste.

Enya war etwas blass um die Nase. "Die letzte Prüfung", hauchte sie.

"Habe ich schonmal gesagt, dass ich dich nicht um deine Prüfungen beneide, Bürschchen?", gab Darius seltsam tonlos zu.

Das letzte Element war das stärkste. Kilian wusste es, weil das Wasser am längsten frei gewesen war.

Sein Herz rutschte nicht nur in die Hose, sondern stürzte zusammen mit dem Wasserfall hunderte Meter nach unten. Dieser entsprang hier oben und war schmaler als der vor Fionas Zuhause, aber nicht weniger kraftvoll. Seine geballte Kraft schlug donnernd unten im Abgrund zwischen den zwei Bergen auf. Unten trafen Steine, Wasser und harte Felsen aufeinander und vermischten sich zu einem reißenden Fluss. Er schäumte, als er gegen die Felskanten schlug, und rauschte so laut, dass Kilian Enyas Worte fast überhörte.

"Im Westen, dort das Wasser lacht", flüsterte sie, "liebevoll und doch wechselhaft. Vertraue dem Leben, stets im Fluss, folge dem Ruf - bis zum Schluss."

Er schluckte. Bis zum Schluss - das würde er tun. Ihm fehlte nur noch Wasser und das nötige Vertrauen, dass das der richtige Weg war.

Kilian zog seine Weste aus und begann, seine Ärmel hochzukrempeln.

Darius, der es sich ausnahmsweise auf seiner Schulter bequem gemacht hatte, flüchtete schnell zu Enya. "Was wird das?"

"Was glaubst du denn?", entgegnete Kilian und schluckte den Kloß in seinem Hals herunter, damit seine Stimme nicht bebte. "Vertraue dem Leben, stets im Fluss", wiederholte er. "Ich sehe nur einen Fluss: dort unten. Also ..." Er stoppte.

"Was?", wollte Enya wissen.

Ihm war ein Gedanke gekommen. "Wenn der Wasserfall hier oben entspringt, muss es auch hier oben einen Fluss oder zumindest eine Quelle geben! Das sollte genügen, um sich der Prüfung zu stellen." Die Erleichterung schwappte wie eine Welle über ihn. Er musste nicht nach unten klettern. Kilian wollte auch nicht wieder abstürzen, wie vorhin. "Kommt mit!"

Gemeinsam suchten sie den Weg zum Ursprung. Kilian kletterte eine Anhöhe nach oben - und blieb wie angewurzelt stehen.

"Das Element Wasser."

Das kugelrunde, leuchtende Element, das er aus dem Buch freigelassen hatte, schwebte knapp einen Meter über dem Boden. Aus ihm entsprangen der endlose Strom und die gewaltigen Wassermassen des Wasserfalls. Es schien eine unversiegbare Quelle zu sein, die nur aus einem Grund hier gewartet hatte: Ihn zu sich zu locken.

Der Wasserfall verstummte von einer Sekunde auf die andere und nur noch vereinzelte Tropfen fielen hinab auf den Boden, bis auch diese versiegten. Das Wasserelement pulsierte in hellem Blau und in ihm wirbelten Wellen wirr umher.

Das war nicht der Geist des Wassers - aber ein Teil davon. Das Element schwebte vor ihm und Kilian spürte die magische Anziehung. Langsam trat er näher.

Quintessentia - Das fünfte Element (ONC 2024)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt