19. Kapitel - Stille Wasser sind tief

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Das Wasser war eiskalt. Kilian wehrte sich. Doch ohne Luft wurden seine Bewegungen immer träger, bis seine Kraft schließlich nachließ. Er spürte, dass ihn etwas nach unten zog, immer tiefer und tiefer, bis sich der Griff um sein Bein schließlich verflüchtigte. Es gab ihn frei.

Hoch über ihm glitzerte das Licht an der Wasseroberfläche. Wellen schäumten auf, als jemand eintauchte. Enya strampelte und begann, mit hektischen Bewegungen nach unten zu schwimmen. Sie streckte ihre Hand aus.

Sie war unglaublich weit weg.

Trotzdem mobilisierte Kilian seine letzten Kräfte und begann erneut zu schwimmen. Er würde nicht ertrinken, nicht so kurz vor Ende des Pfades!

"Kilian!", flüsterte eine Stimme und ließ ihn urplötzlich innehalten. Sie schien aus den Wellen zu kommen, sie war überall. Über ihm, neben ihm, unter ihm.

Vor allem unter ihm.

Kilian drehte den Kopf. Einige Meter unter ihm schwamm eine wunderschöne Nixe. Ihr schillernder Fischschwanz funkelte wie der Regenbogen. Sie schenkte ihm ein Lächeln, das von roten Haaren aus Algen umrahmt wurde. Ihre Haut war grün und ihre Augen leuchteten strahlend blau, wie das reine Wasser.

Ihre Lippen bewegten sich. "Komm zu mir, Kilian."

Kilian sah nach oben. Enya schüttelte heftig den Kopf und hatte die Augen fast panisch aufgerissen, während sie versuchte, tiefer zu tauchen. Doch die Wellen drückten sie wieder nach oben, sodass sie nur langsam vorankam.

Natürlich kannte Kilian die Mythen über Nixen, auch wenn es ihm wie ein anderes Leben schien, als er im Studierzimmer seines Vaters gesessen und gelesen hatte. Nixen gehörten zu den tödlichsten Unwesen von Jelera. Sie lockten Reisende auf den Grund von Seen und damit in den Tod. Denn sie waren in der Lage, die Grenzen zwischen Diesseits und Jenseits überqueren. Einmal ihrem Ruf verfallen, gab es kein Zurück.

"Komm zu mir", wiederholte die Nixe verlockend.

Über ihm wirbelten Wasserströmungen. Enya strampelte noch heftiger mit den Beinen, doch sie kam nicht voran. Verzweifelt streckte sie ihre Hand aus.

Er müsste zu ihr hoch schwimmen. Aber sollte er das tun? Immerhin musste er eine Prüfung bestehen.

Unentschlossen, auch wenn jede seiner Zellen nach Luft schrie, verweilte Kilian an Ort und Stelle.

Die Nixe lächelte. Bei der Prüfung ging es um Vertrauen. War sie der Geist des Wassers? Oder war sie ein Unwesen? In letzterem Fall würde es den sicheren Tod bedeuten, ihrem Ruf zu folgen.

Aber wenn er recht hatte und sie tatsächlich ein Elementargeist war, dann ging es wahrscheinlich genau darum: War er wirklich bereit, dem Wasser zu vertrauen? Sogar bis zu seinem möglichen Tod, falls er sich irrte?

Kilian blickte nach oben zu Enya. Ihre Versuche, tiefer zu tauchen, stoppten, als sie es anscheinend verstand. Trotzdem lag ein flehender Ausdruck in ihren Augen. Kilian schüttelte langsam den Kopf und hoffte, dass er es nicht bereuen würde. Vielleicht war es dumm. Aber wenn er sich täuschte, war es eh egal, oder?

Er wandte der Wasseroberfläche den Rücken zu und begann nach unten zu schwimmen. Die Schwerkraft half ihm. Er sank tiefer hinab ins endlose Blau. Kilian wusste, dass er allein nicht mehr hochkommen würde. Aber wenn er die Prüfung bestehen würde, würde der Geist des Wassers ihn sicher retten.

Falls sie der Geist des Wassers war.

Falls nicht ... dann würde er wenigstens gefüllt mit Vertrauen ertrinken.

Kilian paddelte mit den Beinen. Schwarze Wellen begannen, durch sein Sichtfeld zu tanzen. Seine Bewegungen wurden mühseliger und langsamer.

Die Nixe wartete geduldig. "Kilian!", rief sie.

Quintessentia - Das fünfte Element (ONC 2024)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt