Rettung in letzter Sekunde

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Leyla lächelte mich tatsächlich an. Sie war mir dankbar.
,,Danke."
,,Für was?", sagte ich und wurde rot.
,,Du bist die Erste, die mir so hilft. Als ich vor meinem ersten Selbstmordversuch stand auf einer Autobahnbrücke, zückten schaulustige Jugendliche ihre Handys und beleidigten mich. Dann schrie ich sie an und drohte ihnen mit Schlägen."
Bei ihrem letzten Satz grinste sie belustigt und mir lief es kalt den Rücken runter. Mich wollte sie auch mal schlagen, sie beleidigte mich, erniedrigte mich.. Wieso war sie nun so nett?
Ich wusste nicht, ob ich ihr vertrauen konnte.
,,Geht es dir jetzt besser?", fragte ich mit zittriger Stimme und sie nickte. Sie streckte ihre zerbrechlichen, vernarbten Arme in meine Richtung aus und rief:
,,Trag mich, ich kann nicht gehen!"
Ich runzelte die Stirn und stotterte unbeholfen:
,,Äh-Ääh..Also ich kann d-doch auch stützen.."
Leyla schaute mich genervt an und schloss kurz die Augen. Wahrscheinlich war sie jetzt kurz davor auszurasten und das nur, weil es jetzt nicht so lief, wie sie wollte..
,,Bin ich zu schwer oder was?!", schrie sie.
Ich stöhnte laut auf und bückte mich zu ihr.
,,Nein, nein. Ich kann nur nicht so gut Leute tragen.."
,,Hast du Osteoporose?", fragte sie prompt.
,,Nein, wieso?"
,,Ich schon. Also trag mich!", befahl sie und schaute mich kühl an.
Ich biss mir auf die Unterlippe und legte ihren Körper zaghaft in meine Arme. Meine Finger bohrten sich in ihre Wirbelsäule und ich hatte Angst ihr ausversehen etwas zu brechen.
Ich warf meine Tasche auf ihren Bauch drauf und als sie anfing zu keuchen, wurde mir ganz unwohl. Panik überkam mich und ich schaute sie geschockt an, aber zum Glück ging es ihr jetzt besser.
Ein Schritt nach dem Anderen stapften wir - besser gesagt ich - durch den fremden Wald den Pfad entlang.
Meine Arme gaben langsam nach, aber ich tat Leyla jetzt den Gefallen. Eben hatte ich wirklich sehr große Angst um sie.
,,Hörst du jetzt mit dem Rauchen auf? Ich meine, du hast ja Lungenprobleme und sowas..", fragte ich vorsichtig.
,,Halt die Fresse und geh' weiter.", knirschte sie harsch und ließ ihren Kopf gelangweilt nach hinten hängen.
,,Hör auf damit! Wenn du deinen Kopf nicht stützt, kann ich dich nicht mehr richtig tragen. Das ist mir eh zu schwer.", rief ich genervt und bückte mich langsam um sie abzulegen.
,,Bist du bescheuert?! Erst tust du einen auf nett, aber nun?"
Sie zog ihre Augenbrauen beleidigt zusammen und schaute mir provozierend in die Augen.
,,Hinterhältige Dreckssau.", murmelte sie mit sich selber und versuchte sich aufzurichten, aber ihre Beine gaben nach..
,,Was hast du da gesagt?!", schrie ich sie an.
,,Du bist so eine widerliche, hinterhältige Fotze. Du willst mir erst helfen und denkst du hast es damit gut bei mir, aber nein. Ich hasse dich!", schrie sie und die letzten 3 Wörter schallten weiter im Wald - und in mir drin.
,,Du bist so eine verwöhnte..", brach es aus mir heraus und ich guckte schnell weg.
,,Also verwöhnt?! Was?! Mein Vater hat mich geschlagen, gepeitscht, gedemütigt, vergewaltigt und eingesperrt. Ich war Dreck für ihn und werde es immer sein! Aber nein, dein Vater war immer für dich da und jetzt schau mal wo du gelandet bist! In einer Psychiatrie, weil dein Vater dachte sein kleines Mädchen wäre zu dünn!", schrie sie und am Ende lachte sie belustigt auf. Dieser Zorn..dieser Schmerz. Es tat so weh.
,,Du hast keine Ahnung!", rief ich in ihre Richtung und ich drehte mich unbeholfen im Kreis, stolperte fast und rannte mit Tränen in den Augen ahnungslos durch den ganzen Wald.
Sie hatte so Recht. Erst jetzt wurde mir alles klar! Mein Vater wollte mich loswerden und ließ es so aussehen, als sorgte er sich um mich.
Aber nein!
Das tat er nie und er wird es auch nie!
Ich kreischte einmal lange los und versuchte die ganze negative Spannung in mir loszulassen, aber es klappte nicht. Ich schrie wieder los und spürte langsam wie meine Füße an Haftung auf dem Boden verloren und ich letztendlich in mich zusammenbrach. Ich war ein schwaches Wrack.
Nutzlos.
Lächerlich.
Peinlich.
Aufmerksamkeits-suchend.
Fett.
Hässlich.
Eklig.
Diese Worte hallten in mir drin..Ich schloss die Augen und immer wieder flogen mir neue negative Wörter vor die Augen. Wie schaffte es Leyla nur mich psychisch so fertig zu machen..?
Doch plötzlich raffte ich mich auf und mir war ganz mulmig zumute. Leyla! Ich hatte sie allein gelassen und es gab 2 Möglichkeiten.
1) sie suchte mich und wollte mich umbringen.
2) sie bekam den nächsten Hustenanfall und starb.
Egal, was sie mir antat, egal wie sie zu mir war, ich konnte nie egoistisch sein! Ich rannte panisch los und hatte die schlimmsten Bilder vor Augen. Meine Beine zitterten, ich schwitzte und ich stellte mir vor ich laufe um Kalorien zu verbrennen. Das gab mir den Schub!
Als ich an der Lichtung stand wie eben, war nur noch meine Tasche war. Mit keuchenden Atem bückte ich mich runter und fing an zu schluchzen. Sie war weg und wer weiß, was ihr zugestoßen war..
Okay, ich musste stark bleiben. Diesmal wollte ich nicht versagen, ich wollte nützlich sein.
Ich raffte mich auf und ging einen schmalen Pfad entlang. Der Wind pfiff durch die Bäume und eine melancholische Stimmung entstand.
An einem Stein entdeckte ich plötzlich etwas Silbernes unter den unzähligen Blättern. Mein Herz pochte bis zum Hals und ich hielt die kleine Klinge gegen die schwache Abendsonne.
,,Scheiße!", schrie ich.
Die Klingel schrie verführerisch nach mir. Sie wollte auf meiner Haut entlang schneiden, ich wusste es.
Panisch warf ich sie weg und lief weiter. Ich bog links um die Ecke und hörte ein leises Schreien. Ich bekam schlagartig Gänsehaut und mein Herz drohte zu platzen.

Tatsächlich war da Jemand. Leyla lag auf dem Boden, die krümmte sich vor Schmerzen, hielt sich den Hals zu, krächzte Schreie und sie war leichenblass.
Ich rannte auf sie zu und stolperte vor ihr. Fast fiel ich auf sie drauf. Ich löste ihre Finger von ihrem Hals und sah, dass sie in der Nähe der Pulsschlagader heftig blutete. Hastig drückte ich ihr eines Handgelenk auf dem Boden und presste das Taschentuch auf die offene Stille.
Ich zitterte am ganzen Leibe wie die Äste an den Bäumen. Das Wetter passte perfekt zur Situation. Die Ruhe vor dem Sturm, sagt man doch.
Ich tippte panisch die Notrufnummer in mein Smartphone und ignorierte die ganzen Chats. 23 Chats und das nur, weil ich in der Klinik war. Sonst interessierte sich niemand für mich!
Sofort ging jemand dran.
Mit zittriger Stimme und Heulanfällen erzählte ich der Notrufzentrale alles. Sogar so unnötige Sachen wie der Streit. Die Tränen flossen und landeten dabei auf Leyla drauf.
Der Mann am anderen Ende der Leitung wollte einen Rettungshubschrauber losschicken. Ich lächelte dankbar unter Tränen und betete zu Gott, obwohl ich Atheistin war.

90-60-90? Eher 80-55-83Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt