Schreckliche Erkenntnis

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Am Abend wachte ich erneut auf. Diesmal hörte ich gedämpfte Stimme hinter dem Türbogen des Wohnzimmers und ich setzte mich langsam auf.
Ich konnte es immer noch nicht realisieren, dass Tessa im Krankenhaus lag und sterben könnte. Ihr kleines, schwaches Herz könnte jeden Moment aufhören zu schlagen.
Und ich hingegen saß hier wie ein Häufchen Elend auf der Couch und heulte mir die Seele aus dem Leib.
Mein Gehirn hämmerte heftig gegen den Schädel, als wäre da irgendwer in mir, der endlich aus diesem Körper entfliehen wollte.
Zwingend trank ich ein Schluck vom Wasser, das auf dem Tisch stand und ich bereute es prompt. Heute war wieder einer dieser Tage, an denen ich das Hungern anfing. Das heißt weder essen noch trinken, um Kontrolle über mich zu bewahren.
Sofort spuckte ich etwas Wasser aus dem Mund und hielt mir die Hand vor. Sowas konnte und wollte ich einfach nicht in mir drin behalten.
Plötzlich schluckte ich das Wasser dann doch runter. In diesem Moment wollte ich mich selber rot und blau schlagen. Mich überkam direkt der Selbsthass.
Wie konntest du nur? Einmal, Zoey, einmal wollten wir es gemeinsam schaffen. Nicht essen und nichts trinken. Du und deine fehlende Disziplin, ihr geht mir sowas von auf die Nerven!
Ich wollte eilig nach oben ins Bad um zu Erbrechen. Die kleine, kindliche Stimme in meinem Kopf würde mich irgendwann noch komplett umbringen. Doch im Flur standen mein Vater und Selina rum, die auf die Pizza im Ofen warteten.
,,Ihr macht Pizza?", fragte ich und ich glaube mein Gesicht verzog sich angeekelt.
,,Für dich haben wir doch extra eine ohne Käse gemacht.", strahlte meine Stiefmutter und dachte, sie würde damit etwas bewirken.
Doch sie bewirkte nichts weiter als Wut und Ekel.
,,Denkt doch nicht ernsthaft, dass ich so einen Fraß essen würde! Ich bin doch nicht bescheuert!", schrie ich und ich merkte wie meine Augen sich mit Tränen füllten vor lauter Wut.
,,Wir merken doch selbst, wie du immer wieder in dein altes Ich reinrutschst. Ständig nur am Abnehmen, Weinen, Nachdenken, das zerstört alles!", rief schließlich mein Vater und ich konnte mich nicht mehr zusammen reißen.
,,Du wirst immer dünner. Wir müssen wohl wieder bei der ambulanten Therapie anrufen.", flüsterte Selina und seufzte.
Statt zu antworten polterte ich die Treppe kreischend hoch und mir war danach, das ganze Haus zu zerstören. Ich hatte so eine Energie in mir aufgeladen und wollte sie irgendwie loswerden.
Warum konnte keiner verstehen, dass ich keine Hilfe wollte? Sie müssen sich ja nicht mit meinem Problem abgeben. Ich bin ich und das ist gut so. Immerhin belästige ich doch niemanden mit meinen Sorgen und auf so eine Therapie konnte ich gut verzichten, denn ich wollte weder zunehmen noch gesund werden!
Ich vergrub mich wie immer mal schluchzend im Badezimmer. Als ich die Reflexion meines Körpers und Gesichtes in den sich spiegelnden Fließen gegenüber sah, rutschte ich quietschend die Tür entlang auf den Boden und brach in mir zusammen. Tränen überkamen mein Gesicht, doch ich wollte auch gar nicht weinen. Ich wollte nur alleine gelassen werden. Für immer.
Von der ganzen Heulerei in den letzten Tagen bekam ich schreckliche Kopfschmerzen und rote Augen. Ich sprang auf und wankte etwas benommen hin und her. Als ich mich auf die Zehenspitzen stellte, um nach Paracetamol zu greifen, fiel mir die Waage unter dem Waschbecken auf.
Erst musste ich den großen Kloß in meinem Hals hinunter schlucken. Ich hatte mich zuletzt vor 2 Wochen gewogen. Ich war endlich unter die 45 Kilogramm. Oft wurden mir gemeine Äußerungen hinterher gerufen, wie "Iss was!", "Magersuchti!" oder so. Mir gefiel allerdings diese Anerkennung. Jedes einzelne Kommentar prallte an mir ab. Ich war wahrhaftig zum Eisklotz mutiert und verletzte jeden, der mich auch nur zu berühren wagte.
Schließlich entschied ich mich dann doch für das Wiegen. Ich holte die Waage zitternd und schlotternd unten hervor und traute mich gar nicht erst drauf zu steigen.
Ich schloss die Augen, zählte bis 10 und blickte mutig in den Spiegel. Statt in fröhlich schauende, große, strahlende, blaue Augen zu sehen blickte ich in müde, trübe, gerötete, fast schwarze Augen mit Mascara überall verschmiert.
Meine Unterlippe bebte. Ich war ein Monster und keiner könnte mich mehr retten.
Um mich abzulenken, stieg ich mit einem Schub auf die Waage. Verzweifelt rang ich nach Luft und konzentrierte mich vollkommen auf mich selbst.
Die Waage meldete sich mit einem Ergebnis, das mich sehr überraschte.
42,8 Kilogramm
So tief war mein Gewicht noch nie und ich wusste, dass ich jeden Moment in die Klinik müsste, wenn meine Eltern das erfuhren.
Ich spürte direkt wie meine Mundwinkel sich krankhaft nach oben zogen. Mir gefiel diese Art von Selbstzerstörung, ich liebte es sogar.
Zufrieden schob ich die Waage zurück, tupfte meine Tränen mit dem Handrücken weg und schloss die Tür auf. Plötzlich stand mein Vater direkt davor.
,,Was hast du da solange drin gemacht?"
Er verschränkte die Arme vor mir und lugte ins Bad rein.
,,Nichts, ich gehe jetzt schlafen. Immerhin muss ich morgen Mathe lernen und danach gehe ich ins Krankenhaus.", antwortete ich kühl.
,,Stopp! Du wirst niemanden im Krankenhaus besuchen. Selina hatte Recht, deine Freunde fügen nur Schaden hinzu und zwingen dich weiter Abzunehmen!"
,,Sie haben nichts damit zu tun!", rief ich und rollte genervt mit den Augen. ,,Jetzt lass mich in mein Zimmer."
,,Das geht so nicht weiter Zoey! Wenn ich dich noch einmal Ritzen oder Gewicht verlieren sehe, kommst du zurück auf die Station und diesmal ins Krankenhaus!"
,,Es heißt schneiden!", rief ich wutentbrannt und ging eilig weg in mein Zimmer, woraufhin ich entnervt die Tür zuschlug und die Bilder an der Wand wackelten.
Eins fiel jedoch hin und als ich mich bückte, entfuhr mir ein "Autsch!". Meine Knochen taten schrecklich weh.
Als ich das Bild sah, stockte mir der Atem. Es war ein Bild von meiner Einschulung, der Tag an dem meine Schullaufbahn startete. Ich starrte fröhlich und mit einer Zahnlücke vorne in die Kamera und rechts und links standen mein Vater und meine richtige Mutter. Wir waren eine zufriedene Familie ohne Streit oder Probleme.
Eine Träne tropfte auf das Bild und ich wischte sie vorsichtig weg mit dem Saum meiner Bluse.
Schnell legte ich das Bild auf meinen Schreibtisch. Jetzt musste ich mich ablenken, also zog ich mich hastig aus, stolperte über den Klamottenstapel und fiel dabei fast um.
Ich holte eine Sportmatte unter meinem Bett hervor und begann in Unterwäsche sofort zu trainieren um noch mehr Fett zu verbrennen.
Zum Glück war ich noch voller Energie, denn es war schon nach 22 Uhr und ich lag die letzten Wochen nur faul rum mit knurrenden Magen.
Nach 20 Minuten beendete ich meine ganze Sportsession und zog direkt Pyjamas an, obwohl ich leicht verschwitzt war. Doch als ich zufällig zur Tür lugte, sah ich irgendeine Gestalt durch das Schlüsselloch gucken. Mir wurde plötzlich eisig kalt, ich bekam Gänsehaut und trotzdem schwitze ich. Ich schluckte erstmal ganz fest um eine aufkommende Übelkeit zu verhindern.
Jetzt sah ich also schon Gespenster und was kommt als Nächstes?
Mit einem komischen Gefühl im Bauch legte ich mich in mein Bett und schaute gespannt erneut zur Tür. Was wenn mich jemand beobachtete? Und warum?

Für Fragen, Kommentare, Kritik, Anregungen bin ich jederzeit offen. Vielen Dank für's Lesen.❤️

90-60-90? Eher 80-55-83Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt