Sorry, Mum.

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Der Schultag verlief eher entspannt. Ich wechselte kein einziges Wort mit Natalia, da sie auch komischerweise fehlte.
Doch auch meine eigentlich so netten und unternehmungslustigen Freundinnen Gina, Susi, Lea und Mara redeten nicht mit mir und fragten auch nicht, ob wir nachher alle in den Park am See fahren würden.
Die letzten 5 Minuten saß ich gelangweilt neben Lea und starrte Löcher in die Decke. Ich hörte, wie sie angeregt neben mir mit Mara, Gina und Susi tuschelte.
Ich hasste es außen sitzen zu müssen und ein Außenseiter zu sein.
Konzentriert beugte ich mich leicht zu ihnen und versuchte aus ihrem Wortschwall ein paar Fetzen herauszuhören, doch es war vergeblich.
Genervt setzte ich mich wieder hin und packte schon zusammen. Nichts wie raus hier und danach wollte ich alleine in den Park zum Joggen und Kalorien verbrennen.
Ich schloss die Augen und lehnte mich zurück. Das war das Einzige, was mir noch übrig blieb im Leben. Abnehmen und meinen Körper zerstören, bis nichts mehr da war.
Wie auf Kommando drehte sich Lea neben mir abrupt um und tippte mich an mit ihren spitzen Nägeln.
,,Aua!", entfuhr es mir und ich starrte sie mit zusammengekniffenen Augen an.
,,Tut mir leid. Ich wollte fragen, ob du nachher mit uns in die Pizzeria gehen möchtest?", fragte sie und lächelte.
Ich legte meine Stirn in Falten und schon da wurde mir kotzübel. Ich dachte an die fettige Pizza mit ihrem klebrigen Käse, der meine Hüften wie Hefeteig aufgehen lassen würde. Und der Belag erst! Eklige Salami, die vor lauter Fett und Speck die Speiseröhre in Sekundenschnelle runterrutschte.
,,Ich habe keinen Hunger.", lautete meine legendäre Ausrede, die nur leider kaum noch half.
,,Du kannst uns nicht verarschen, Zoey!", raunte mir diesmal Gina zu. Auch sie kniff die Augen zusammen und zickte mich genervt an. Meine Güte aber auch!
,,Hört ihr meinen Magen knurren? Nein! Mir geht es gut und ich werde zu Hause was essen. Dad wird kochen.", gab ich zurück und widmete mich wieder meiner Tasche, die auf meinem Schoß lag. Was wollten die denn jetzt von mir?
,,Du wirst es eh nicht essen!"
Wie von einer Tarantel gestochen, drehte ich mich um Richtung Lea und sah ihre mit tränen gefüllten Augen. Sie hatte doch selber mal ein gestörtes Essverhalten und muss doch wissen, dass es mir schwer fällt.
,,Lea..."
Doch weiter kam ich nicht. Schon als es zu Schulschluss klingelte, packte sie alles zusammen, warf in Hektik den Stuhl hinter sich um und verließ mit großen Schritten den Raum gemeinsam mit meinen anderen "Freundinnen", die ihr eilig nachliefen ohne mir "Tschüss!" oder Derartiges zuzurufen.
Wütend sprang ich auf und wollte hinausrennen, doch meine Klassenlehrerin hielt mich plötzlich an der Schulter fest.
,,Zoey, hast du einen Moment Zeit?", fragte sie mich und bat mich Platz zu nehmen im Nebenraum.
Ich legte meine Tasche ab und setzte mich erwartungsvoll hin. War irgendetwas mit meinen Noten?
,,Frau Weyenthaler, was möchten Sie mit mir besprechen?", erkundigte ich mich und folgte ihr mit meinen Augen. Sie kochte Tee für uns beide. Wahrscheinlich irgendeine Kräuterteemischung, da sie ein spiritueller Fanatiker war.
Doch sie antwortete mir erst, als beide ihren Tee in der Hand hielten.
,,Du warst ja eine lange Zeit in der Schule nicht anwesend. Der Schuldirektor hat mich als deine Klassenlehrerin natürlich informiert und mir alles geschildert."
Und ab da sackte mir mein Herz in die Hose. Ich stellte meine zitternde Tasse ab und wischte meine feuchten Hände trocken. Ich war einfach nur entsetzt! War ja schon schlimm genug, dass ich grundlos in diese geisteskranke Klinik musste!
,,Und jetzt?", fragte ich beiläufig.
,,Ich weiß auch nicht. Wie geht es dir so momentan mit dir und deinem G-G-Gew-?"
Sie wedelte mit ihrer freien Hand herum und deutete dabei auf meinen Körper. Sollte das ein Zeichen sein, dass ich wunderbar zugenommen hätte oder was?
,,Sie meinen mein Gewicht? Oh, ähm, wissen Sie, es geht mir ausgezeichnet.", antwortete ich nervös und setzte ein gefälschtes Lächeln drauf. Als ich gerade an meinem (hoffentlich!) zuckerfreien Tee nippen wollte, verbrannte ich mich prompt an meiner Unterlippe.
,,Entschuldigen Sie.." begann ich und beugte mich nahezu unter den Tisch und meine Lippen abzutupfen.
,,Das freut mich wirklich sehr. Hast du sonst Hilfe?"
Sie lächelte mich schief an, doch insgeheim wusste sie einfach nicht, was sie sagen wollte. Es war ein unsicheres und komisches Lächeln. Die Frau spielte doch irgendwelche Psychospielchen mit mir!
,,Momentan gehe ich zu meiner Psychologin, aber mit meinen Freunden rede ich nie darüber. Sie haben Besseres zutun."
Ich seufzte übertrieben und dachte daran an meine Freundinnen, die es für nötig hielten mit mir Pizza essen zu gehen, obwohl uch vor Kurzem noch eine Zeit lang (grundlos) über den Schlauch ernährt wurde!
,,Meinst du damit Lea, Gina, Susi und Mara oder wie?"
Zaghaft nickte ich und bittete insgeheim, dass dieses Gespräch unter 4 Augen blieb.
,,Was ist mit deinen Eltern? Sind sie getrennt, geschieden, verheiratet..?"
,,Mein Dad hat eine neue Frau. Sie heißt Selina. Meine Mutter und ich hassen uns, denke ich mal."
Sobald ich an meine "richtige" Mutter dachte, fing mein Herz an das Blut wie in einem Marathon zu pumpen und es fühlte sich so an, als würde es zerplatzen. Ich hasste dieses Gefühl, aber viel mehr hasste ich meine Mutter Brigitte und, was sie mir angetan hatte, als ich 8 war. Sie war eine drogensüchtige, schreckliche, nerventötende Mutter, die mir immer an den Kopf warf, dass ich unperfekt war und nie etwas erreichen würde. Nie.
,,Wieso das denn?", wollte Fr. Weyenthaler nun wissen.
Einige Dinge möchte ich nun mal niemandem sagen. Nicht einmal  meinem Freund, der mir sowieso am Nahsten steht. Es ging einfach niemanden etwas an.
,,Das ist mir privat, verzeihen Sie.", nuschelte ich und stellte meine Tasse in die Mitte des Tisches. ,,Ich muss los."
Sie stand auf und kam zu mir rüber. Ihre braunen Augen glänzten und schauten mich traurig an. Wenn sie jetzt weinen würde, wüsste ich mir echt nicht mehr zu Helfen.
,,Zoey, ich habe einige Broschüren in meinem Fach über Essstörungen. Dort sind auch Kliniken abgedruckt, die man jederzeit anrufen kann. Bleib stark und gehe aufrecht durch den Tag.", wisperte sie und versetzte mich dabei in eine verwirrte Lage.
,,Ähm, danke."
Ich fühlte mich ganz komisch danach und stolperte regelrecht aus dem Klassenraum.
Doch ich rannte schnell aus der Schule raus, denn ich wollte keine dumme Broschüre haben über Essstörungen, an denen ich eh nicht leide. Wurden jetzt Nach und Nach etwa alle in meinem näheren Umfeld verrückt?
Kopfschüttelnd und aufgebracht wartete ich an der Bushaltestelle.
Als er nach paar Minuten endlich vor meiner Nase hielt und die Fensterscheiben der Eingangstüre durch meinen Atem leicht beschlagen wurden, fing ich an zu keuchen.
,,Wird kälter, junge Dame.", zwinkerte mir der Busfahrer zu und strich an seinem Ziegenbart.
Ich starrte ihn entnervt an, doch mich traf zum zweiten Mal der Schlag, als ich genauer hinschaute, wer da sonst noch im Bus stand. Es war meine Mutter? Ich hätte sie nahezu gar nicht wiedererkannt!
Doch sie sah krank und kaputt aus. Unter ihrem grünen Poncho stachen kurze, abgemagerte und spitze Arme heraus, die einen Trolley umklammerten. Ihre Haare waren buschig und kaputt und sie hatte mehr Falten als Dad, obwohl er rund 15 Jahre älter war.
Gedankenverloren blickte sie aus dem Fenster, doch als der Bus sich in Bewegung setzte, kippte sie erschrocken nach hinten und da trafen sich plötzlich unsere Augen.
Ich wusste, dass es meine Mutter war. Da gab es keinen Zweifel. Doch was zum Teufel machte sie hier? Nach ihrem Selbstmordversuch vor fast 8 Jahren, hatte ich sie nie wieder gewesen. Dad und ich zogen gemeinsam in das gehobenere Stadtviertel und dabei ließen wir sie zurück.
,,Mutter?", krächzte ich und näherte mich.
Sie schaute mich gekränkt und beleidigt an. Ich traute mich nicht sie zu umarmen. Ihr kranker, dünner und faltiger Körper drohte zu Zerbrechen. Daran lagen ganz bestimmt die Drogen und der Alkohol.
,,Zoey?!", rief sie und dabei weiteten sich ihre grün-braunen Augen um etwa 30%. Sie sah nicht überrascht aus, eher erschrocken.
,,Ja, die bin ich!"
Und da tat sie etwas, was ich wirklich nie erwartet hätte. Nicht mal im Schlaf dachte ich daran!
Sie ließ ihren Trolley umkippen und schlurfte mit müden und halbtoten Blick auf mich zu um mich zu umarmen.
Dabei vergaß ich alles, was mir in den letzten Jahren passiert ist. Ich vergaß unsere schlimme Vergangenheit und die Folgen darauf.
Auch wenn sie derbe nach Zigaretten, Alkohol und Benzin roch, nahm ich sie herzensergreifend in den Arm. Es tat gut, obwohl es auch irgendwie falsch war.
,,Wieso wart ihr weg?!", schluchzt sie und schob sich von mir weg. Erst da bemerkte ich einen großen, nassen Fleck auf meiner Jacke. Angeekelt zog ich sie aus und setzte mich meiner Mutter gegenüber.
,,Es ist so viel passiert. Zu viel. Es war das Richtige." erklärte ich und tupfte meine tränennassen Augen trocken. Jetzt bloß nicht weinen, Zoey!
Doch es war so emotional und überwältigend meine Mutter nach nahezu 10 Jahren wiederzusehen. Es gab mir 100 Stiche mit einem Messer ins Herz, während ich sie mir so anschaute. Sie war jedoch nicht mehr meine Mutter. Sie war ein zerstörtes, nervliches Wrack und ich hatte nicht genügend Kraft ihr zu helfen. Sorry, Mutter.

90-60-90? Eher 80-55-83Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt