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„Komm mit, Ava! Für mich, bitte!", bettelt Joana, während sie meine Hände drückt. „Ich habe die ganze Woche gearbeitet inklusive heute, dieses Wochenende würde ich gerne ausruhen... Außerdem bin ich sowieso immer die Spielverderberin, die nie trinkt", gebe ich gequält von mir. „Nagut, aber du weißt dass ich dich immer gerne dabei habe, auch wenn du nichts trinkst, oder?", gibt sie sich augenrollend geschlagen. „Nächstes Mal", sage ich und versuche damit, meine Mitbewohnerin zu besänftigen. „Versprochen?" Ich nicke als Antwort. Sie schnappt sich ihre Tasche und zieht mich zum Abschied in eine kurze Umarmung bevor sie sich auf den Weg zur Studentenparty macht. Als sie die Wohnungstür zuzieht, entsperre ich mein Handy um meine Nachrichten zu checken. Vier verpasste Anrufe von Dad, sieben verpasste Anrufe von Mom. Ich schlucke schwer und kann nichts gegen die Gänsehaut tun, die sich gerade in mir ausbreitet. Zögerlich drücke ich auf den Rückrufknopf und halte das Handy an mein Ohr, während mein Herz wie verrückt hämmert. Ich fühle mich irgendwie immernoch meinen Eltern gegenüber verpflichtet, auch wenn ich versuche, den Kontakt zu minimieren. Sie haben mir seit ihrer Sucht kein einziges Mal gezeigt oder gesagt, dass sie mich lieben sondern mich nur benutzt und wie Dreck behandelt. Nicht wie ihre Tochter. Hätte mir Joana nicht aus diesem Teufelskreis herausgeholfen, würde ich heute noch glauben, dass ich es nicht anders verdiene. Als Moms lallende Stimme meine Gedanken unterbricht, fährt sofort Reue in meinen Körper. Sie beginnt abrupt, mich anzuschreien und mir vorzuwerfen, ich sei eine schlechte Tochter, die sie alleine zurückgelassen hat. Eine Tochter, die ihre armen Eltern einfach ihrem Schicksal überlässt. Mit zittrigen Händen hebe ich mein Handy langsam vom Ohr weg. Ihre kratzige Stimme schallt trotzdem noch laut und deutlich durch den Handylautsprecher. Meine Mom hat mich so oft angerufen und versucht zu erreichen und das scheinbar nur um ihre Wut an mir rauszulassen und mich mit Vorwürfen und Anschuldigungen zu bewerfen. Als meine Augen schließlich anfangen zu brennen, überwinde ich mich und drücke die rote Taste um aufzulegen. Wie von selbst wandern meine Finger zu den Einstellungen neben ihrem Kontakt und drücken entschlossen auf die 'blockieren'-Taste. Ich starre reglos auf den Handybildschirm und fasse nicht, dass ich das gerade getan habe. Im einen Ohr höre ich Moms Stimme, im anderen Ohr rufe ich mir Joanas Worte in Erinnerung, dass ich eine bessere Zukunft verdiene. Ich gebe mein bestes, mich auf dieses Ohr zu konzentrieren und atme tief durch.

Egal was ich an diesem Abend versuche zu tun um mich vom wahrscheinlich schrecklichsten Telefonat meines Lebens abzulenken, es will mir einfach nicht gelingen. Wir haben mittlerweile dreiundzwanzig Uhr abends und ich beschließe, alles auszumachen, womit ich mich die letzten Stunden berieseln lassen habe. Den Podcast und das Radio, die nebenbei laufen, den Fernseher, auf dem in voller Lautstärke irgendein Film läuft sowie Joanas Laptop, auf dem ich sinnlos irgendwelche Spiele spiele. Würde ich Alkohol nicht wegen meiner Eltern verabscheuen, hätte ich sicherlich stattdessen damit versucht, meine Sinne zu betäuben. Aber als alle Geräte aus sind und es plötzlich ganz still um mich ist, begebe ich mich zu den bodentiefen Fenstern im Wohnzimmer, aus denen man einen atemberaubend schönen Blick runter auf die Stadt hat. Ich kann verstehen, wieso Joana diese Wohnung auf keinen Fall aufgeben wollte. In diesem Hochhaus lebt es sich wirklich gut und ich spüre kurz einen Funken Dankbarkeit, auch dafür, dass der Umzug mir die Chance auf ein neues Leben gegeben hat.
Dennoch fängt später, als ich bereits geduscht im Bett liege wieder die negative Gedankenspirale an und ich erinnere mich an viele vergangene Momente, in denen meine Eltern mir ihre Undankbarkeit demonstriert haben, die mich heute noch zum kochen bringen. Ich wälze mich bestimmt eine Stunde hin und her und versuche vergebens zu schlafen. Letztendlich gebe ich mich geschlagen und werfe die Decke von mir. Ich werfe einen Blick auf mein Handy, um die Uhrzeit zu checken: 02:16 Uhr. Ich gebe ein gequältes stöhnen von mir während ich aufstehe und mir meinen Morgenmantel umwerfe. Was mir schon immer geholfen hat, den Kopf frei zu kriegen, ist spazieren. Einfach gehen ohne Ziel. Kurz grüble ich, ob das eine sichere Sache ist, in einer Großstadt alleine bei Nacht einen Spaziergang zu machen, aber die Alternative dazu wäre, weiterhin in meinem Bett zu verzweifeln, also entscheide ich mich für die riskantere Alternative. Ich bin gerade wirklich nicht bei bester Laune und lasse mich von meiner Leichtsinnigkeit überzeugen, da diese mir einredet, ich hätte sowieso nichts zu verlieren wenn mir etwas passieren würde. Über diesen traurigen Gedanken bin ich kurz von mir selbst empört und dränge ihn mit einem Schnaufen weg. Bevor ich rausgehe, sehe ich mich kurz im Spiegel an. Mit meinem Morgenmantel über meinem Pyjama und meinem dunkelbraunen Messybun kann ich mich nicht ernst nehmen und beschließe damit, dass das das perfekte Outfit ist, um als Frau alleine rauszugehen und Menschen von sich fernzuhalten*. Ich tausche meine Pantoffeln noch durch Sneaker, schnappe eine Kabel-Kopfhörer von der Kommode und mache mich auf dem Weg nach draußen. Im kompletten Gebäude sowie im Aufzug herrscht eine Totenstille und irgendwie fühlt es sich an, als würde die Welt nachts stillstehen. Sicherheitshalber schicke ich meiner besten Freundin Joana noch schnell eine SMS und meinen Standort, damit sie sich keine Sorgen macht, falls sie genau dann heim kommt wenn ich draußen herumlungere.

*Ich möchte damit in keinster Weise sagen, dass das Outfit damit zusammenhängt, ob man als Frau belästigt wird oder nicht. Ich wollte mit dieser Schreibweise lediglich Avas Gedanken darstellen.

𝑯𝑰𝑫𝑫𝑬𝑵 𝑭𝑬𝑬𝑳𝑰𝑵𝑮𝑺Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt