Prolog - Zwei Jahre zuvor

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Zwei Jahre zuvor

"LAUF! Dreh dich nicht um, Lily! Lauf weiter! Verschwinde von hier!"

Seine vor Schmerz erfüllte, brechende Stimme brannte sich tief in mein Gedächtnis ein. Würde nie, nie, nie wieder vergessen, was hier passierte.
Ich folgte seiner Anweisung und rannte. Rannte, rannte soweit ich konnte. Rannte, weil es von meinem Leben abhing. Meine Lungenflügel brannten und schmerzten unaufhörlich, so sehr versuchte ich alles zu geben, was ich eigentlich nicht geben konnte. Ich besaß keinerlei Ausdauer. Meine Beine waren es nicht gewöhnt, vor Angst so stark beansprucht zu werden. In der Schulzeit war ich zwar nie die beste, aber auch nie die Schlechteste im Ausdauerlauf gewesen. Doch jetzt, hier... musste ich dafür kämpfen, damit ich am Leben bleiben konnte. Egal, wie. Ich musste es versuchen. Nicht nur für mich, sondern auch für ihn. Besonders für ihn.
Noch nie waren meine Beine so schnell gewesen. Das knorrige, teilweise brüchige Holz krachte unter meinen Füßen. Lose Steine, Kiesel und Eicheln stoben in alle Richtungen davon. Prallten an wirrem Gestrüpp und harten Bäumen ab. Die Geräusche, die dadurch verursacht wurden, klangen viel zu laut in meinen Ohren. Glichen fast einem Klingeln. Nur für einen kurzen Moment passte ich nicht richtig auf und stolperte daraufhin. Strauchelte über meine eigenen Füße. Drohte, auf den harten Boden zu fallen. Ruderte hilflos mit den Armen, um das Gleichgewicht zu halten. In der letzten Sekunde konnte ich mich wieder auffangen. Für eine kurze Sekunde blieb ich stehen, bevor ich blind weiter rannte weiter. Immer weiter durch das tiefe Unterholz. Immer weiter in den Wald hinein. Ich wusste nicht wohin, aber ich hoffte, sie konnten mich hier nicht finden. Extreme Panik war ab jetzt mein Begleiter. Die Leute, die mich verfolgten, würden mich hören. Sie würden die Schreie von Alexander hören. Und mich in die Hände bekommen wollen.
Nicht weit entfernt entdeckte ich vor mir eine Vertiefung, unter der ich mich zu verstecken suchte. Ich rutschte hinab und versuchte in aller Hast die Spuren zu verwischen, die ich verursacht hatte. Die dreckigen Hände fest auf den Mund gepresst, den Duft von modriger Erde in der Nase, hörte ich nur das starke Rauschen meines eigenen Blutes in den Ohren. Ein monotones Geräusch, welches eigentlich beruhigend wirken und an ein sanftes Rauschen des Meeres erinnern sollte; jetzt aber der extreme Horror war. Kein Tier war zu sehen; gab keinen Ton von sich. Sie hatten sich ebenfalls versteckt; wollten nicht genauso enden wie ich. Das Beste, was sie machen konnten, bis...
Ein lauter Knall durchbrach die einstige Stille. Er schallte durch den Wald. Breitete ein Klingen und Klirren in meinen Ohren aus. Alles in meinem Inneren verkrampfte sich. Für einen Augenblick schien mein Herz still zu stehen. Es schlug nicht mehr weiter. Es erstarrte, genauso wie ich es tat. Nicht ein enziger Muskel wollte sich regen.
Und gleich danach war da dieser unberechenbare Schmerz. Dieser unfassbar grausame Schmerz, der in mir alles zusammenzog. Ich ahnte es. Wusste es. Spürte es. Alexander war tot. Er musste tot sein. Ich konnte es mir nicht anders vorstellen.
"HIER LANG! SIE IST IN DIESE RICHTUNG ABGEHAUEN!" 
Wütende Stimmen näherten sich. Lautes Trampeln und Keuchen. Die Leute, die uns überfallen hatten, drangen weiter hervor. Drangen immer näher zu mir durch. Sie würden mich erwischen. In mir drehte sich alles, doch ich blieb in meinem Versteck. Machte mich so klein, wie ich nur konnte. Hoffte, das es hielt, was es versprach. Verharrte weiter aus. Atmete. Blinzelte. Erdklumpen rieselten unter meiner Brille in meine Augen, sodass ich hastig blinzeln musste. Ein großer breiter Schatten tauchte auf der gegenüberliegenden Seite auf. Fest presste ich die Lippen aufeinander. Ich bildete mir ein Blut zu schmecken. Nur kein Ton. Sei einfach still.

Mucksmäuschenstill.

Ich hielt die Luft an. Am Liebsten wäre ich einfach erstickt. Dann würde sich das Problem von ganz alleine lösen.
Für eine unendliche Ewigkeit blieb der Schatten des Mannes stehen. Schaute umher, sah aber nicht das, was er hoffte zu erspähen. Machte auf der Ferse kehrt und schien wieder zu gehen.
Doch genau das konnte ein Trick sein. Würde ich jetzt aus dem Versteck auftauchen, konnte ich im nächsten Moment den Lauf der Pistole vor mir sehen. Oder vielleicht nicht einmal das, wenn ich bereits tot auf dem Waldboden lag und uns niemand finden würde.
Wieso verdammt war ich nur auf die dämliche Idee gekommen, ausgerechnet hier zu zelten. Wieso hätten wir nicht einfach daheim bleiben können. In unseren sicheren vier Wänden. Doch wären wir dort sicher gewesen?
Doch all die Schuldzusprechungen waren zu spät. Das hier, genau jetzt, war zu spät. Ich wartete noch ungefähr eine halbe Stunde, vielleicht auch länger, ehe ich mich aus dem Versteck heraus trauen konnte. Die Dämmerung war unaufhaltsam. Die Sonne folgte ihrem abendlichen Ritual und ging langsam am Horizont unter. Ich hatte Mühe, mich zurecht zu finden. Wenn es richtig dunkel wurde, war ich komplett verloren. Ich hatte weder eine Taschenlampe, noch eine andere Lichtquelle dabei. Meter für Meter lief ich in die Richtung zurück, in der ich den Lagerplatz vermutete. Tastete mich voran. Weiter und weiter. Ein Fuß vor den anderen. Noch ein paar Schritte. Innerlich betete ich dafür, dass Alexander doch noch eine Möglichkeit gefunden hatte, sich vor den Übeltätern zu retten. Die Augen fest auf mein Ziel gerichtet, die Ohren wie eine Fledermaus gespitzt, tastete ich mich vorsichtig weiter nach vorne. Ich erschrak vor einem Vogel, der quer über meinem Kopf zu einem anderen Baum flog. Ich verfluchte ihn dafür, dass er mir so einen Schrecken eingejagt hatte. Düstere Schatten tanzten auf dem Boden herum, bis ich ihn schließlich sah.

Alexander.

Der unbeschreibliche Schmerz von vorhin durchfuhr erneut meinen vor Schreck und Angst geplagten Körper und setzte ihn in Vollbrand.
"Nein... nein, nein, nein...", flüsterte ich besorgt, hauchend und verzweifelt zugleich. Ich rannte zu meinem Freund. Mit dem Oberkörper zum Boden hin gerichtet lag er da. Alle viere waren von sich gestreckt. Eine Blutlache hatte sich um seinen Kopf herum gebildet. Ich versuchte den Puls an seinem schlaffen, viel zu blassen Handgelenk zu ertasten, doch ich spürte ihn  nicht. Er hatte... Er war... tot.
Das Blickfeld verschwamm vor meinen Augen, mir wurde schlecht. Ich wandte mich ab und brach alles aus mir heraus.
All die Wut, den Schmerz, die Angst, die von mir Besitz ergriffen hatte.
Ich konnte und wollte dem Druck nicht länger Stand halten. Zitternd und komplett außer mir versuchte ich, ihn wachzurütteln. Versuchte, meine letzten Möglichkeiten raus zu holen. Doch das Projektil, welches zwischen den braunen Locken im Hinterkopf feststeckte, war Beweis genug dafür, dass alle Hoffnungen und Gebete sinnlos waren.
Im totalen Zombiemodus drehte ich den toten Körper um. Es kostete mich einige Kraft. Traurig schloss ich die Augen. Das einst wunderschöne Gesicht war mit Blut überseht. Wäre es nicht da, könnte man meinen, er schliefe friedlich. Aber wir waren in keinem dieser Blockbuster - Filme, in dem die Person wieder aufwachte, weil die Patrone einen Millimeter an einem wichtigen, lebenserhaltenden Teil vorbeigeschrammt war. Nein. Das hier war die scheiß verdammte Realität. Alles um mich herum zerbrach in tausende Einzelteile. Zersplitterte zu einem irreparablen Scherbenhaufen. Würde nie mehr das sein, was es einmal war. Mit wackeligen, butterweichen Beinen stand ich auf, schwankte zu unserem Zelt und kramte in den unterschiedlichen Taschen und Beuteln nach dem Handy, welches ich vor Schreck nicht mitnehmen konnte. Es war noch genau da, wo ich es zuletzt gelassen hatte. Während ich den Notruf der schwedischen Polizei wählte, fiel mir ein karierter Zettel auf, der achtlos aus meinem Notizbuch gerissen worden war. Mit krakeliger, unsauberer Schrift stand darauf geschrieben:

Egal wo du bist, wir werden dich finden. Das Spiel ist noch nicht vorbei. Wir sehen dich und wenn wir dich erwischen, wirst du genauso aussehen, wie dein kleiner Kumpel dort. Mausetot.

Mir wurde schwarz vor Augen. Nur noch leise konnte ich die Stimme aus dem Telefon wahrnehmen, die versuchte ruhig auf mich einzureden.
"Bitte... helfen Sie uns... überfallen... tot...", stotterte ich mit meiner restlichen Kraftreserve hervor. Noch ein letzter verzweifelter Atemzug, dann brach ich auf dem Zeltboden zusammen. Erst später im Krankenhaus erlangte ich mein volles Bewusstsein wieder.

Don't Trust NobodyWo Geschichten leben. Entdecke jetzt