Lily
Erdige, modrige Luft umhüllte mich, als Smilla und ich in die heiligen Hallen des nahegelegenen Pflanzencenters eintraten. Im Verkaufsraum dudelte leise Radiomusik, an der Kasse piepste es. Hier und dort waren andere Kunden ebenfalls mit einem Einkaufswagen unterwegs. Doch hier war ausreichend Platz, sodass ich meiner Panik keinen Platz geben wollte, denn Smilla war bei mir. Durch die großen, gläsernen Fensterscheiben der Gewächshäuser drangen einige von den Sonnenstrahlen hindurch und sorgten dafür, dass die Luftfeuchtigkeit stieg und ich mich fast wie in einer Sauna fühlte. Und dabei stand der Sommer noch längst nicht in den Startlöchern bereit. Dafür brauchte er noch ein paar Wochen. Die Räder des metallenen Einkaufswagens quietschten und ratterten, während ich meiner besten Freundin und Mitbewohnerin durch die unzähligen Gänge voller grünem Glück folgte. Neben den normalen Pflanzen, die man sachgemäß in die freie Natur pflanzen oder stellen konnte, lag Smillas Augenmerk natürlich (was auch sonst) auf der zahlreichen Auswahl tausender Zimmerpflanzen.
Den Hype darum hatte ich nie verstanden. Seit nun ungefähr drei oder vier Jahren herrschte in Schweden ein regelrechter Kampf um die schönsten und ausgefallensten Pflanzenarten auf der Welt. Alleine wie viel Geld die ganze Sache fraß, würde mir den Spaß daran nehmen. Doch es machte Smilla glücklich. Jedes Mal, wenn wir in unseren freien Tagen planten nur normal für uns einzukaufen, war ein Abstecher in eines der Pflanzencenter garantiert. Und ich gönnte es meiner besten Freundin nur von Herzen. Ich spürte, wie sie mit voller Begeisterung in ihrem Hobby aufging. Deshalb gab ich mich auch damit zufrieden, ihr minutenlang hinterher zu tingeln, gelegentlich den Kopf zu einem Nicken zu animieren oder einen Rat abzugeben, welcher Übertopf am besten zu der ausgewählten Zimmerpflanze passte.
Da Smilla gute Kontakte hegte, wusste sie auch genau, wann die Center neue, frische und besonders seltene Ware bekamen. Dadurch wunderte es mich überhaupt nicht, dass der freie Platz im Wagen gemächlich, aber zunehmend, kleiner wurde. Sollte es jemals eine Pflanze in meine Obhut schaffen; sie würde freiwillig den bestmöglichen und schnellsten Weg zur Biotonne wählen. Vielleicht spürten sie ja auch, dass in mir kein positiver Vibe gegenüber ihnen herrschte, sodass sie direkt in Panik verfielen und alle Blätter von ihrem Stamm warfen. Wenn überhaupt, dann käme nur Plastik in Frage. Es verlangte nach keiner besonderen Pflege, brauchte kein Wasser und veränderte sich auch sonst in keinster Weise. Außer das vielleicht ein wenig Staub darauf hängen blieb. Gerade als ich ein besonders interessantes Exemplar in die Hand nehmen wollte, hörte ich hinter mir einen entsetzten Jubelschrei von Smilla. Ihre Nike-Schuhe quietschten über den gefließten Boden und blieben nur wenige Sekunden später neben mir stehen.
"Oh du heilige Scheiße!", rief sie voller entzücken, sodass ich rasch meine Hand, die zuvor in der Luft vor der Pflanze geschwebt war, zurück zog. Was war denn nun los? Mein Blick schien diese Frage für sich alleine zu stellen, denn in den Augen meiner Mitbewohnerin schienen funkelnde Sterne vor lauter Begierde zu explodieren.
"Das...", fing sie an, kam aber überhaupt nicht dazu, es genauer auszusprechen. Denn ein Mann, der nun ebenfalls an den Verkaufstisch getreten und in unserem Alter zu sein schien, beendete ihren angefangen Satz mit einer gewissen Fachkenntnis, die mich zum Staunen brachte. "... eine Rhaphidophora Tetrasperma Variegata, fälschlicherweise auch als Monstera Minima betitelt. Sie ist erst seit ein paar Wochen im normalen Handel erhältlich und oft binnen weniger Stunden ausverkauft. Was du da siehst, ist eins von fünf Exemplaren, die wir heute neu reinbekommen haben."
Verdutzt blickte ich den jungen Mann neben uns an, dessen grüne Arbeitskleidung mir erst in diesem Moment aufgefallen war. Kein Wunder dass er so viel über diese Pflanze wusste, wenn er jeden Tag damit zu tun hatte. Ich schätzte ihn sehr für sein unaufgefordertes Wissen.
Smilla hingegen klebte an seinen Lippen wie jemand, der die letzte Möglichkeit nach einem Schluck klaren Wassers hatte. Sanft rüttelte ich meine Freundin an der Schulter, damit sie wieder aus ihrer Träumerei zurückfinden konnte.
"Was für ein Sperma?", fragte ich den Verkäufer vor mir in seinem gärtnerhaften Outfit, woraufhin er leicht rote Wangen bekam. Anscheinend war ihm der Name genauso suspekt und unangenehm wie mir.
"Tetrasperma", wiederholte er freundlicherweise für mich und schaute dabei abwechselnd Smilla und mich an.
"Möchtest du sie haben?", fragte der Verkäufer nun direkt an meine beste Freundin gerichtet, die neben mir wie ein hoffnungsloser Fall wirkte. So weggetreten hatte ich sie noch nie erlebt. War sie so Schockverliebt in dieses Exemplar von Pflanze, dass sie einen Herzstillstand vor lauter Bewunderung erlitten hatte? Musste ich sie wiederbeleben? Damit sie endlich reagierte, trat ich ihr mit meinen Fuß kräftig auf den weißen Sneaker, was sie daraufhin undamenhaft fluchen ließ. Sie war wieder da. Genauso wie der braune Fleck, der nun auf der Vorderseite ihres Schuhes prangte. Shit, hoffentlich würde mir Smilla nicht den Hals umdrehen. Die Dinger waren ziemlich teuer gewesen. Noch teurer, als diese Pflanze, die sie gerade anhimmelte.
"Der nette Mann hat dich gefragt, ob du die da", ich zeigte mit meinem linken Zeigefinger auf den Topf, " nun mitnehmen möchtest. Ja oder nein, entscheide dich, sonst stehen wir hier noch bis morgen."
Smilla fackelte nicht lange, nickte kräftig und nahm die Sperma-Pflanze begierig in die Hand. Wie ein Baby wiegte sie das teure Teil im Arm und ich war mir nicht sicher, ob ein paar Synapsen in ihrem Kopf abhanden gekommen waren. Das Smilla einen kleinen Knall von ihren Katzen davongetragen hatte, wusste ich. Vermehrt trat es dann auf, wenn wir unser wohlverdientes Wochenende hatten. Dann turtelte sie auf dem Boden kriechend mit dem Katzen umher, als gäbe es kein Morgen mehr. Ich sah es schon kommen, das Smilla diese Pflanze auf ihren Nachttisch stellte und ihr eine Geschichte vorlas. Vielleicht so etwas wie Jack und die Bohnenranke. Das würde definitiv zu ihrer Durchgeknalltheit passen. Aber dafür liebte ich diese Frau. Sie machte sich keinen Kopf daraus, was andere über sie dachten. Auch wenn ich manchmal den Kopf schütteln musste, war es sie, die mich immer wieder zum Lachen brachte. Genauso jetzt. Meine Mundwinkel zuckten, als ich einen kurzen Blick mit dem Verkäufer tauschte, auf dessen Namensschild Sven stand.
"Freut mich, dass ich euch weiterhelfen konnte! Wenn ihr Fragen habt, ich bin nicht weit weg!"
Er verabschiedete sich von uns, drehte eine kurze Runde um und herum, bevor er durch die automatisch öffnende Tür nach draußen zu den Outdoor-Pflanzen eilte.
"Ich glaube er fand dich ganz nett", meinte ich zu Smilla, die ihre neue Errungeschaft zu den anderen in den Wagen gestellt hatte.
"Wer?", fragte Smilla und schaute endlich wieder zu mir auf. Das sie mit einer Hand das weiß-grüne Blatt verliebt streichelte, entging mir nicht.
"Na Sven!"
"Wer zum Teufel ist Sven?!"
"Deine Pflanze auf jeden Fall nicht, du Genie. Sven. Der Typ, der gerade eben noch genau dort an diesem Fleckchen gestanden hat? Der Verkäufer?"
"Ach der...", sagte Smilla. Ihre Wangen nahmen einen sanft farbigen Ton an.
Eine meiner Augenbrauen rutschte voller Neugier nach oben.
"Jaa, der Sven", zog ich meinen Satz in die Länge und belauschte ein älteres Ehepaar, das sich nicht entscheiden konnte, welches rankende Teil nun mit nach Hause durfte.
"Er war süß, mehr nicht", antwortete Smilla nach einer kurzen Bedenkpause und deutete mir an, wieder hinter ihr her zu rollen.
"Nach nur süß sah es aber nicht aus. Du hättest fast gesabbert!"
"Hätte ich nicht!", stritt meine Mitbewohnerin ab und befummelte die nächsten Blätter, während sie den langen Gang entlang schlenderte. So langsam mussten wir echt aufhören, ihr Portemonnaie würde sonst in Flammen aufgehen, wenn es den teuren Betrag bezahlen musste.
"Oh doch. Gib doch zu, dass du ihn mehr als süß fandest und ich bin fein damit", sagte ich und lehnte mich auf die plastikgrüne Stange am Wagen, auf der der Name des Gartencenters stand und mit 10% Rabatt auf die Erstregistrirung zur Kundenkarte warb.
Genau in dem Moment, als Smilla etwas erwidern wollte, kam Sven zurück. Er lächelte uns kurz zu, bevor er dem ratlosen Ehepaar, welches noch immer unentschlossen vor den rankenden Pflanzen stand, Gesellschaft leistete und ihnen die Entscheidung abnahm, doch beide Töpfe mitzunehmen.
Smillas Blick ruhte auf ihm. Ihre Pupillen waren geweitet. Ihr Atem ging schneller und unruhiger. Ein eindeutiges Indiz. Sie hatte sich verknallt. Und das nicht zu wenig.
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Don't Trust Nobody
Mystery / ThrillerDont Trust Nobody - Wenn die Vergangenheit dich nicht loslassen will TW: Mord, PTBS, Albträume Lange hat Lily dafür gekämpft, nach einem dramatischen Überfall vor zwei Jahren wieder die zu sein, die sie einmal war. Trotz Therapie fällt es ihr noch...