Kapitel 10

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Lily

Malmö Gazette

Ein wahres Drama scheint sich letzte Woche in unserem schönen Schweden abgespielt zu haben. Erst zum heutigen Zeitpunkt gibt die schwedische Polizei einige der geheimsten Daten für unsere Presse frei.
Am 23. Juni 2023 wollten Kilia Svenson und Janush Fransen (Namen von der Redaktion für den Personenschutz verändert) einen gemütlichen Abend in einem der schönsten Wälder unseres Ladens verbringen, als sie von einer, noch immer, unbekannten, sehr aggressiv geltenden Bande überfallen wurden. Kilia, die sich laut Aussagen der Polizei noch aus eigenen Kräften vor der tätlichen Gefahr retten konnte, war die einzige von beiden, die diesen Abend überlebte. Völlig entkräftet und unterkühlt rief sie nach dem tragischen Fund ihres ermodeten Freundes den Notruf.
Leider konnten wir noch nicht zu Kilia durchdringen, um genauere Informationen vom Tathergang zu erhalten. Wir können aber auch verstehen, dass sie nach so einem Vorfall genügend Ruhe braucht, um sich von all diesen Geschehen zu erholen. Wir wünschen Kilia ganz viel Kraft und Unterstützung, damit sie ganz schnell wieder in ihr normales Leben zurückfinden kann.
Noch offen steht, wer einen Grund dafür hatte, ihnen solch ein Leid anzutun. Die Polizei bittet daher um sachdienliche Informationen, die besonders in diesem dramatischen Fall behilflich sein können. Wer hat an diesem Abend des 23. Juni 2023 um circa 22 Uhr in XX etwas gesehen? Waren auffällig gekleidete Menschen unterwegs? Trugen diese Leute bestimmte Sachen mit sich? Gibt es Indizien dafür, dass es sich um einen bloßen Überfall oder doch eine größere Sache gehandelt hat?

Die Redaktion nimmt jeden Hinweis dankend auf und leitet ihn umgehend an die Polizeidirektion weiter. Erreichen könnt ihr uns über die zentrale E-Mail Adresse, den Instagramkanal (sweden.pol.ice) oder unter folgender Telefonnummer.

Seufzend schluckte ich den Kloß, der sich fest in meinem Hals eingenistet hatte, herunter. Mit schwitzigen, klammen Fingern legte ich den Zeitungsausschnitt der Malmö Gazette in die Kiste zurück, die ich ganz weit unter mein Bett geschoben hatte und nur sehr selten zum Vorschein brachte. Einfach, weil sie Dinge enthielt, die ich vergessen und nie wieder zu Gesicht bekommen wollte. Das Papier war nach all den Berührungen dünner geworden, die Druckertinte verblasst. Einige Stellen waren durch das viele Lesen uneben, zerknittert und von Tränen getränkt worden. 
In meinem Kopf lief der Satz, dass ich wieder in ein normales Leben zurückfinden konnte, in Dauerschleife von links nach rechts. Leuchtend wie eine nervige Reklametafel, auf der die neuesten Trends beworben wurden. Fehlte nur noch das blinkende, halb kaputte Neonlicht, das alle möglichen, nachtschwärmenden Insekten anlockte und in den Tod führte, weil sie zu lichtgeil waren.
Ich legte den pappigen Deckel wieder oben auf der Kiste ab, fuhr mit der rechten Hand darüber und schob sie wieder dorthin, wo ich sie hergeholt hatte. In der Hoffnung, dass ich nicht wieder schwach wurde und sie aus Verzweiflung erneut hervor holte.
Natürlich war darin nicht nur dieser eine Zeitungsartikel. Darin lagerte ich vier weitere (zu unterschiedlichen Zeiten von unterschiedlichen Verlagen herausgebrachte) Ausschnitte, ein Bild von Alexander und mir (zu seinem Geburtstag vorletztes Jahr aufgenommen), ein Schlüsselanhänger, der meine Initialen und ein kleines Bild von mir enthielt, welchen ich ihm zu unserem einjährigen Jubiläum geschenkt hatte. Seinen Ring, den er immer an der rechten Hand trug. Er hatte ganz am Anfang davon erzählt, dass er ihn vor Jahren einmal aus einem dieser alten Kaugummi-Automaten gezogen hatte.
In der Kiste lag außerdem sein heißgeliebtes Parfum.

Es war noch halb voll.

Alexander hatte es sehr sparsam verwendet. Ich konnte es riechen, auch wenn der Deckel darauf verschlossen war. Diese Mischung aus frischer Minze, saftiger Mandarine und dem starken Duft von Zedernholz würde ich nicht mehr vergessen; aus dem Kopf bekommen. Gerüche verbanden vieles; Gutes und Schlechtes. Es würde mir immer wieder die Szene unseres ersten Treffens vorspielen. Den Abend, an dem wir uns das erste Mal küssten. Die Nacht, in der wir uns das erste Mal richtig liebten. Und ausgerechnet der Tag, an dem alles den Bach runter lief. Der Tag, an dem die Hälfte meines Herzens nicht mehr schlug.
Noch darin enthalten war sein geliebter Nike-Pullover. Ein schlichtes Modell in der Farbe weiß. Doch die Rotweinflecken waren nach all der Zeit noch immer vorhanden. Ich hatte es nicht gewagt ihn zu waschen. Er hatte es einfach nicht geschafft ordentlich zu trinken und sein Oberteil in Folge dessen einzusauen. Die Abende, die wir verbracht hatten, waren darin verewigt.
Zum Schluss, ganz unter den restlichen Sachen verborgen, lag dort ein selbgeschriebener Brief. Verschlossen. Mit einem Herzsticker versiegelt. Nie aufgebrochen.
Ich hatte ihn eines Tages beim Aufräumen in seiner Wäsche gefunden. Ob er ihn dort absichtlich hingelegt hatte, wusste ich nicht. Ich wusste nur, dass ich irgendwann die Kraft dafür finden musste ihn zu öffnen. Doch ich war noch nicht bereit dafür. Ich wollte nicht seine Worte lesen, seine Gedanken, die er auf ein Stück Papier geschrieben und an mich gerichtet hatte. An seine Lily. Die, die er innig geliebt hatte.

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