Kapitel 12

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Lily

Rückblick Kindheit
TW häusliche Gewalt

Das laute Zuschlagen der Haustür lässt mich zusammenzucken. Ich war, wie üblich nach der Schule, in meinem Zimmer und machte meine Hausaufgaben, als alles auf dem Ruder lief. Alles eskalierte. Alles in einen Scherbenhaufen zerbrach. Ich wusste, dass mein Vater seit einigen Tagen wieder vermehrt zu stark in das Glas geschaut und demzufolge einen mächtigen Pegel angetrunken hatte. Wenn man alkoholabhängig war, fiel es einem nicht mehr so schnell auf, wie viel man von der abhängig machenden Flüssigkeit überhaupt schon in seinen Blutkreislauf gebracht hatte. Und mein Vater, der eigentlich ein Vorbild sein sollte, hatte seinen Pegel schon um Längen überschritten. Wie ein Fluss, der durch starke Regenfälle stetig angestiegen war. Langsam, Zentimeter für Zentimeter, bis es sich dann rasch auf mehrere Meter erweiterte, verschnellerte. Bis das Wasser, was sich ansammelte, unbarmherzig überlief und alles zerstörte und mit sich riss, was es zu greifen und zu fassen bekam. Genauso wie meine Mutter. Genauso wie mich.
„Hey!“, hörte ich ihn von unten herauf in mein Zimmer rufen. Ich wusste, dass Mom in der Küche sein musste. Nach ihrer langen Schicht im Krankenhaus (immerhin musste ja einer von beiden Geld verdienen; Dad war für nichts mehr zurechnungsfähig) hatte sie sich an den Herd gestellt, um uns etwas zum Essen zu machen. Auch wenn ihr die Schicht noch in den Knochen lag und sie eher im Bett liegen wollte, war sie für mich immer da gewesen. Sie war die Person, die sich am meisten um mich kümmerte. Natürlich, auf meinen Vater war überhaupt kein Verlass mehr. Immerhin traf er sich lieber mit seinen Freunden im Park oder in irgendeiner Bar, verprasste das hart erarbeitete Geld und kippte es in Form von Bier und anderen Flüssigkeiten seinen verbrauchten, verrauchten Rachen hinunter.
„HEY!“, ertönte es ein zweites Mal; lauter und harscher wie zuvor. Es machte mir Angst. Er machte mir Angst.
Ich blickte von meinen
Englisch-Hausaufgaben auf, steckte den Deckel auf den Füller und wippte unruhig mit den Beinen auf und ab. Mein Körper versteifte sich; ich wusste, dass heute definitiv kein guter Tag werden würde. Nicht, wenn Dad bereits seit heute morgen irgendwo herumgestromert war und den Rausch hier ausleben würde.
„Leg dich doch hin“, dachte ich mir und biss mir wirsch auf der Unterlippe herum. Sie war von all meiner Angst und Nervosität total zerbissen und aufgeplatzt. Ich konnte schon das Blut schmecken. Doch mein Vater legte sich natürlich nicht hin. Wieso auch, immerhin war er doch gerade am Anfang, um auf volle Fahrt umzuschalten. Die, die nur in einer Katastrophe enden konnte. Ich hörte nun auch Mom. Sehr leise und zischend; sie wollte nicht, dass ich den Streit, der von Sekunde zu Sekunde lauter wurde, mitbekam. Bis ich erneut zusammenzuckte. Mein Vater hatte es wieder getan. Einmal hatte ich es beobachten können, als ich nicht schnell genug in mein Zimmer geflüchtet war. Ich wusste, dass er in diesem Moment den Topf vom Herd genommen und ihn mit voller Kraft (die ein schwankender Alkoholiker defintitv aufweisen konnte) auf den Boden schmetterte. Heißkalt lief es mir den Rücken herunter. Wir hatten wenig Geld. Keine Ahnung, wie wir uns überhaupt das Haus leisten konnten, in dem wir wohnten. Keine Ahnung, wie wir uns dass Essen, was Vater wieder einmal auf den Boden geworfen hatte, überhaupt weiter leisten konnten. 
Ich hörte Mom laut fluchen. Ich ahnte; nein ich wusste, dass sie sich jetzt in Rage reden würde. Ich verstand wenige Wörter, doch die, die es zu mir herauf schafften, waren keinesfalls für die Ohren einer neunjährigen Schülerin und Tochter bestimmt. „Du bist zu überhaupt nichts zu gebrauchen!!“, brüllte mein Vater unbändig und voller Wut. Bildlich konnte ich mir seine wässrigen, blutunterlaufenen Augen vorstellen, in denen nur noch getrübte blaue Iriden herausblickten. Wie sein ganzer, entkräftet alkoholisierter Körper Mühe hatte, standhaft zu bleiben und nicht auf der Stelle umzukippen. Wie sich seine Finger zu Fäusten verkrampften. Wie sein stoßweiser Atem nach schalem, abgestandenen Bier und Zigaretten roch; wie er lautstark rülpste, weil er keinerlei Kontrolle über sein Körper besaß.
Ich wollte das alles nicht mehr.
Ich wollte in einer normalen Familie leben. Eine, die ihr Leben im Griff hatte. Die nicht ständig bangen musste, auf der Straße zu landen. Ich wollte Freunde haben, die mich nicht abwertend anschauten, sondern für meine tolle Kleidung bewunderten. Die mich nicht dafür verurteilten, dass ich mir keine teuren Sachen leisten konnte. Die mich so akzeptierten, wie ich war. Und die mich gerne besuchten. So gerne hätte ich Leute in unser Haus eingeladen, mit ihnen gespielt und Übernachtungspartys gefeiert. Doch all das war und würde nie zur Realität werden. Nicht und nimmer. 
Weil sich mein Vater nicht verändern würde. Er würde der verlorene Mann bleiben, zu dem er sich gemacht hatte. Er würde nie normal zu anderen Menschen sein können. Er würde nie normal mit mir das Haus verlassen und auf einen Spielplatz gehen können. Die anderen Eltern würden mich von ihren Kindern fern halten und es nicht wagen, mit uns zu reden. Sie würden ihren Kindern erzählen, dass man mit solchen Leuten lieber nichts zu tun haben sollte, schließlich bekommen sie ihr Leben nicht auf die Reihe. Haben keine vernünfitge Kleidung, kein ordentliches Essen, keinen vernünftigen Haarschnitt und erst recht kein Geld. Ein lauter Schrei, der nur von meiner Mutter stammen konnte, ließ mich zu einem Eisblock erstarren. Panik, die mühsam jede einzelne Faser meines Körpers hinaufgekrochen war, wallte heiß und kalt durch jede einzelne, angespannte Zelle. Hastig und blind vor Entsetzen öffnete ich die Zimmertür und flog fast die wenigen Treppenstufen in das Erdgeschoss hinunter. Mit rasendem Herzschlag und immer heißer werdenden Wangen blieb ich schlitternd vor der Küche stehen, deren Holztür weit offen stand. Ich konnte meine Mutter sehen, wie sie mit dem Rücken zu mir gerichtet da stand. Auf dem Boden lag der Edelstahltopf, der unser eigentliches Abendessen enthalten hatte. Überall waren Spritzer verteilt. Der Boden war vollkommen damit übersehene. Die Schultern meiner mamma bebten. Vor Wut und Traurigkeit. Vor Hass und Enttäuschung gegenüber meines Vaters, der ihr gegenüber stand. Die wässrigen, verschleiert wirkenden Augen auf das Unheil, was er angerichtet hatte, geheftet.
"Du!", presste er zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. Er musste sich Mühe geben, nicht zu spucken. Noch hatte er mich nicht bemerkt, dafür stand mir meine Mutter im Weg. "Nein, du! Du hast alles kaputt gemacht!", fing sie an mit brüchiger Stimme zu schreien.
"DU hast dafür gesagt, dass wir hier stehen und nichts zum Essen auf dem Tisch! Alleine DU bist das Problem in dieser beschissenen Ehe! DU solltest dich als Vater und Ehemann bis zum Tode dafür schämen, was du angestellt hast! Wie DU dafür sorgst, dass es uns allen, vor allem aber deiner Tochter, dreckig geht! Nur Du-." Weiter kam meine Mutter nicht, denn eine gewaltige, in der Luft klingelnde Ohrfeige durchzog die Luft. Fast hätte ich mir eingebildet, den Luftzug an mir vorbeiziehen zu spüren.
Meine Mutter erstarrte.
Ich erstarrte.
Um uns herum war es gespenstisch leise.
"Mamma", flüsterte ich. Ich zitterte unaufhörlich am ganzen Körper. Auf der kompletten Haut bildete sich eine umfangreiche Gänsehaut. Plopp, plopp, plopp, stellten sich alle Haare auf. Mich schüttelte es. Erschrocken wendeten sich Mamma und er  in meine Richtung um. In die Richtung, in der ich vollkommen schockiert und erstarrt stand. Mich nicht rühren konnte. Wollte.
"Lily...", hauchte meine Mutter. In ihrem Gesicht, das einen deutlich zu erkennenden Abdruck von der Hand meines Vaters aufwies, wandelten hunderte verschiedene Emotionen auf und ab. Änderten sekündlich ihre Meinung. Zuckten, blinzelten, atmeten, schnappten nach Luft. Mein Vater jedoch setzte nur ein schiefes Lächeln auf.
"Hallo, mein Liebling", sagte er.
Seine Stimme klang zwar nicht so aggressiv wie zuvor, machte mir aber dennoch Angst. Viel zu selten nannte er mich so, eigentlich fast nie. Seine Augen starrten mich an, die Mundwinkel zuckten. Doch eine Bewegung, die er zu vermeiden versuchte, entging mir nicht.
Der Lichtreflex hatte das silberne Metall eines Küchenmessers verraten, welches er schnell hinter seinem Rücken verbergen wollte. In meinem Kopf entstanden Szenarien, die vor der Situation, die sich gerade abspielte, warnten. Das hier... das hier war nicht normal. Weder der Streit, noch das Essen, was während der ganzen Streitigkeit abkühlte und sich in jeder einzelne Fließenritze festsetzte.
Weder der Kochtopf, welcher vom starken Aufprall eine Delle aufwies, noch das lange, silberne Messer, was mein Vater in der Hand hielt. Weder meine Mutter, deren Emotionen unklar und uneinsichtig waren. Noch, dass ich hier gerade ein entsetzliches Familiendrama miterlebte. Mir hatte es die Sprache verschlagen. Ich wollte etwas sagen, doch ich konnte nicht. Die Lippen waren fest verschlossen, fanden keinen Nutzen, um bewegt zu werden. Sie blieben in ihrer Position. Das Schreien, was immer mehr Fahrt in mir aufnahm, drückte sich an allen anderen Gefühlswelten vorbei. Doch ich sagte nichts.
Blinzelte nur.
Viel zu viel.
Atmetete.
Viel zu viel.
Tränen brannten in meinen Augen. Glitzerten und warteten nur darauf, endlich fließen zu können. Mir das Gefühl von Verletztheit zu geben. Mich schwach zu machen. Mich zu demütigen. Meine Mutter, welche zuvor noch erstarrt dagestanden und zwischen far und mir hergeblickt hatte, bückte sich zu mir herunter. Nahm mich auf den Arm, warf einen letzten Blick zu ihm.

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​​Keine halbe Stunde später, ich war für meinen Schutz von mamma im eigenen Zimmer eingesperrt worden, hörte ich die Sirenen der schwedischen Polizei näher kommen. Der schrille Laut tat mir in den Ohren weh. Doch viel mehr schmerzte es, weil ich wusste, dass unsere Familie auseinander gerissen werden würde.
Lauter Tumult.
Schreie meines Vaters.
Ohrenklingelnder Streit.
Polizisten, die unverständlich, aber laut auf far einredeteten.
Autotüren, die zuschlugen. 
Knirschende Reifen, die ausparkten.
Dumpfe Schritte, die die Treppen hinaufkamen.
Ein kurzes Innehalten.
Ein tiefes Einatmen.
Dann ein zaghaftes Klopfen an der Tür.
"Lily, mein Schatz? Hörst du mich? Schläfst du?"
Die Stimme meiner Mutter ertönte. In ihr lag neben Traurigkeit auch ein wenig Hoffnung. Der Klang war heller und nicht mehr so gedrückt wie zuvor.
Ich lag in meinem Bett, die Decke fest über den Kopf gezogen. Die Dunkelheit war jetzt mein einziger Freund. Sie würde mich nicht alleine lassen.
Ein erneutes Klopfen. Doch wieder sagte ich nichts. Gab keinen Mucks von mir. Rührte mich nicht.
Ich wollte jetzt nicht mit ihr reden. Ich wollte überhaupt mit niemanden reden. Alles war zu viel für mich. Zu viel für eine Neunjährige, die in ihrem Leben viel schönere Dinge erleben sollte. Eine Neunjährige, die nie die Angst bekommen sollte, dass ihr Vater die eigene Mutter umbringen würde. Weil er nicht mehr der Herrscher seiner Selbst war. Weil er den Körper an Alkohol und Zigaretten verloren hatte. Drogen, die auf der Welt als total umgänglich akzeptiert wurden. Ein wenig Alkohol da, eine Zigarette hier. Was richteten diese Sachen bloß aus? Sie waren doch total normal in unserer heutigen Gesellschaft.
Doch sie richteten an.
Einiges.
Unaufhaltsames.
Unaufhörliches.
Jeder war seines Glückes Schmied, so stand es überall geschrieben. Doch mein Vater hatte sein Feuer, das er zum Schmieden gebrauchen könnte, längst verloren. Ausgelöscht. Verdampfen lassen. In meinem ganzen Leben hatte ich nie die Gelegenheit dazu bekommen, ihn so kennenzulernen, wie er vor seiner Sucht gewesen war. In welche Person sich meine Mutter damals verliebt hatte. Ich kannte ihn nicht. Und wollte auch nie wieder etwas mit ihm zu tun haben.

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