Ich setzte mich auf. Schlafen konnte ich sowieso nicht mehr. Die Nacht war schrecklich gewesen, erfüllt von wirren Träumen und ruhelosen Gedanken. Als ich aus dem Fenster sah, erkannte ich, dass die Sonne langsam aufging und der erste zarte Lichtstrahl durchbrach die Dunkelheit meiner Hütte. Alles roch nach ihm. Die Stille um mich herum war fast erdrückend, eine bedrückende Leere, die ich nicht gewohnt war.
Auch wenn ich es nicht zugeben wollte, vermisste ich ihn. Mit jeder Sekunde, die er weg war, wuchs der Schmerz in meinem Herzen.
Mein Finger wanderte unbewusst zu meinen Lippen, berührte die Stelle, wo er mich geküsst hatte. Es war ein Gefühl, das ich nie zuvor erlebt hatte. Niemand hatte mich jemals auf die Lippen geküsst. Als Kind hatte ich es immer ekelhaft gefunden, wenn meine Eltern sich küssten. Aber dieser Kuss, sein Kuss, hatte etwas in mir geweckt. Etwas Tiefes und Unerwartetes.
Die Erinnerung an seine Lippen auf meinen löste ein sanftes Kribbeln aus, das sich über meinen ganzen Körper ausbreitete. Ich konnte immer noch das Gefühl seiner weichen Lippen spüren, die überraschende Zärtlichkeit, mit der er mich geküsst hatte.
Ich ließ meinen Finger auf meinen Lippen verweilen, verlor mich in der Erinnerung an diesen flüchtigen, aber intensiven Moment. Meine Gedanken kreisten immer wieder um die gleiche Frage: Warum hatte er mich geküsst? Was bedeutete das alles?
Die Stille der Hütte schien jetzt noch intensiver, noch bedrückender. Ohne seine Anwesenheit fühlte sich alles leer und bedeutungslos an. Ich seufzte tief und schaute erneut aus dem Fenster. Die Welt draußen erwachte langsam zum Leben, doch in mir herrschte ein Chaos aus Gefühlen und Gedanken.
Als er gestern gegangen war und ich mich wieder halbwegs beruhigt hatte, hatte ich alle Beeren gegessen, die da waren. Er ist gegangen, sodass ich mich nur noch um mein eigenes Essen kümmern musste und dass ich mich nur noch um mich selbst sorgen musste. Aber warum hatte er sich nicht schon früher befreit und ist herausspaziert?
Ich hatte mir die Fesseln angeschaut, in der Erwartung, dass sie von seinen Krallen durchtrennt worden waren. Doch was ich fand, waren Brandspuren an den Seilen. Es sah aus, als wären sie mit Feuer geöffnet worden. Ich konnte mir nicht erklären, wie das möglich sein sollte und schob den Gedanken beiseite, wie er das angestellt hatte.
Langsam stand ich auf und streckte mich, fühlte die Anspannung in meinen Muskeln nach der unruhigen Nacht. Die Stille in der Hütte war fast erdrückend. Seit mein Bruder von mir gegangen war, hatte ich lange gebraucht, um mich an die Lautlosigkeit und die Gesellschaft meiner eigenen Gedanken zu gewöhnen. Doch jetzt konnte ich zumindest wieder in meine alte Routine zurückkehren und hatte die Zeit, mein Beet zu ernten.
Während ich mich für die Jagd und den Tag vorbereitete, hielt mich plötzlich ein beunruhigender Gedanke inne. Was, wenn er zu seinen Werwolf-Freunden zurückgekehrt war und meinen Standort verraten hatte? Die Vorstellung ließ mein Herz schneller schlagen. Ich stand vor einer schwierigen Entscheidung: Sollte ich bleiben und darauf hoffen, dass er mich nicht verraten hatte, oder sollte ich alles zurücklassen und fliehen? Dieses Haus, diese Hütte war mein Leben, mein einziger Zufluchtsort. Der Gedanke, alles aufzugeben, war unerträglich. Ich schob die Entscheidung vorerst beiseite; ich musste jetzt erst einmal loskommen.
Ich öffnete die Haustür und trat nach draußen. Der Boden war feucht, und die Luft roch nach nassem Gras – es hatte in der Nacht geregnet. Gerade wollte ich losgehen, als ich ein leises Knacken aus dem Wald hörte.
Sofort blieb ich stehen und spähte in die Richtung, aus der das Geräusch gekommen war. Mein Herzschlag beschleunigte sich, und mein Körper spannte sich an. War er zurückgekehrt? Oder war es jemand – oder etwas – anderes? Die Geräusche des Waldes schienen plötzlich lauter, bedrohlicher. Die vertraute Umgebung fühlte sich auf einmal fremd und gefährlich an.
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Herzen in Fesseln: Mein Gefangener, mein Mate
WerewolfIch habe einen Werwolf entführt und gefangen. Wie es dazu gekommen ist? Das ist eine lange Geschichte. In kurz: Ich wurde in einer Welt geboren, die nichts von der Existenz übernatürlicher Wesen wusste. Doch das änderte sich, als sie uns den Krieg...