Als ihre Pfoten so müde waren, dass sie kaum noch laufen konnte, hielt die Gruppe an. Sie hatten eine freie Wiese erreicht. Am Waldrand lagen dicht nebeneinander, von Nebel verhangen, mehrere kleine Erdhügel - Gräber vieler Katzen aus der Vergangenheit des Clans.
Haselpfote gruselte sich ein bisschen, aber sie folgte den anderen mutig bis ans Ende der Gräberreihe. Dort standen bereits Ginsterkralle, der seiner Tochter einen missbilligenden Blick zuwarf, außerdem Bärennase und Donnerecho, die ein Loch gegraben hatten.
Die Stimmung der Gruppe war gedrückt, als die Katzen sich um den Leichnam von Glanzrose versammelten. Die Älteste war eine respektierte Katze gewesen, die ihr Leben lang dem Clan gedient hatte. Ihre Jungen, also Wieselpfote, Rosenpfote und Ahornpfote standen gesenkten Kopfes am Rand des Grabes, Tränen in den Augen.
Haselpfote, die jüngste der anwesenden Katzen, verstand nicht ganz, warum ihre Freunde so traurig waren. Glanzrose war doch nur eine Älteste gewesen, oder? Und nun war sie tot, aber sie selbst lebten ja noch. Das Leben ging doch weiter! Warum freuten sie sich nicht über solche wunderschönen Dinge wie den Schnee?
Während die anderen Katzen um sie herumein Bild des Elends boten, konnte Haselpfote nicht verstehen, warum sie so traurig waren. Sie fragte sich, ob sie etwas falsch gemacht hatte, ob sie nicht genug getrauert hatte. Aber sie konnte nicht verstehen, warum man traurig sein sollte, wenn es doch so schön und friedlich war.
Haselpfote schloss kurz die Augen und atmete tief ein. Sie versuchte, den Schmerz der anderen zu spüren, aber es gelang ihr nicht. Stattdessen spürte sie nur die Kälte der Blattleere um sich herum und fühlte sich seltsam erleichtert.
Die Begräbniszeremonie verlief ruhig und würdevoll. Haferstern sprach für die Verstorbene und wünschte ihr eine gute Reise in den SternenClan. Dann wurden die Träger gebeten, den Leichnam in die Erde zu legen, damit Glanzrose zu ihren Vorfahren finden konnte.
Plötzlich tauchte ein Aasvogel am Himmel auf und kreiste über den Versammelten. Haselpfote spürte eine unheimliche Spannung in der Luft, als der Vogel tiefer flog und auf Glanzroses Leichnam zusteuerte. Kleintatze reagierte blitzschnell und sprang auf den Vogel zu.
"Nein! Lass sie in Ruhe!" schrie sie und versuchte den Aasvogel zu vertreiben. Doch der Vogel ließ nicht locker und grub seine Klauen stattdessen in Kleintatzes Flanken, um sie nach oben zu reißen. Die Älteste wehrte sich, hieb die Krallen in den Körper des Vogels und grub die Fänge in seinen Flügel.
Haselpfote zögerte keine Sekunde und rannte los, um ihrer Freundin zu helfen. Sie kletterte auf einen nahestehenden Baum, und versuchte, den Vogel irgendwie vom Himmel zu holen. Allerdings kehrte ihre schreckliche Angst plötzlich zurück, und so kauerte sie hoch oben in einem schwankendem Baumwipfel und musste hilflos zusehen, wie Kleintatze und der Aasvogel abstürzten, nachdem der Flügel des Vogels gebrochen und er aus dem Gleichgewicht geraten war.
Gelbkralle kam herbeigeeilt und holte Haselpfote vom Baum herunter. Ihr Gesicht war finster vor Wut.
"Was hast du dir dabei gedacht, Haselpfote? Du hättest dich nicht in solch eine Gefahr begeben sollen!" schimpfte sie.
Haselpfote senkte beschämt den Kopf. Sie hatte nur helfen wollen, doch jetzt war ihre beste Freundin schwer verletzt. Sie konnte die erschrockene Angst in den Augen der anderen Katzen sehen, die noch an Glanzroses Grab standen, und plötzlich spürte sie eine schwere Last auf ihren Schultern. Was war nur mit Kleintatze passiert? Sie konnte den Baum nicht sehen, wo ihre Freundin abgestürzt war.
Sie strampelte sich aus Gelbkralles Griff frei und stürzte noch vor den anderen Kriegern zu dem Baum. Kleintatze lag am Stamm des Baumes, ihre Flanke war aufgerissen und blutete noch immer. Ein Astsumpf musste sie beinahe durchbohrt haben! Außerdem war ihr Hinterbein grausam verdreht. Haselpfote zitterte, als müsse sie die Qualen selbst erleiden, die ihre Freundin durchgestanden haben musste.
Ihre Gedanken wirbelten wild durcheinander, als sie auf die verletzte Kätzin blickte. Sie spürte ein Gefühl der Panik und Verzweiflung in sich aufsteigen. Die Vorstellung, ihre allerbeste Freundin für immer zu verlieren, war einfach unerträglich. Tränen stiegen ihr in die Augen und ihr Herz schien vor Angst zu zerspringen.
Sie kauerte sich neben Kleintatze nieder und legte vorsichtig eine Pfote auf ihr kaltes Vorderbein. Sie war so steif und regungslos, dass Haselpfote dachte, sie sei bereits tot. Ein lautes Schluchzen entfuhr ihrer Kehle und sie konnte kaum noch klar denken.
Warum musste so etwas Schreckliches passieren? Warum konnte sie ihre beste Freundin nicht beschützen? Warum konnte der SternenClan Haselpfotes Welt nicht in Ruhe lassen? Warum musste das passieren? Sie war doch so glücklich gewesen!
Haselpfotes Körper bebte vor Schmerz und sie spürte, wie die Traurigkeit sie überwältigte. Sie wusste nicht, wie sie jemals über den Verlust von Kleintatze hinwegkommen sollte. Sie fühlte sich allein, verlassen und voller Schuldgefühle, und nicht einmal die Stimme ihres Verstandes, die "Du hättest es nicht ändern können!" trompetete, konnte das verhindern.
Jetzt wusste sie, wie sich Wieselpfote, Ahornpfote und Rosenpfote gefühlt haben mussten.
Sie wandte sich ab und richtete den Blick auf den Aasvogel, der mit gebrochenen, verrenkten Flügeln auf dem Boden lag, als ihrem innerem Auge etwas auffiel. Sie fuhr herum und starrte wie gebannt auf Kleintatzes Flanken.
Sie hoben und senkten sich.
Ein schwaches, aber stetiges Auf und Ab, als ob sie Atmen würde. Haselpfote konnte nicht glauben, was sie sah.
Kleintatze...lebte?
Kleintatze lebte!
Der Schmerz in ihrem Herzen nahm ab, als Hoffnung in ihr aufkeimte.
Kleintatze atmete immer noch, sie lebte! Haselpfote stürzte auf ihre Freundin zu, Tränen der Erleichterung und Angst in den Augen.
"Du lebst! Du lebst!" rief Haselpfote verzweifelt. Kleintatze öffnete schwach die Augen und lächelte schwach.
"Haselpfote...Mach dir keine Hoffnungen." flüsterte sie rau.
Haselpfote schluchzte und sank neben Kleintatze nieder. Sie drückte sich an die alte Kätzin - vorsichtig, um sie nicht noch mehr zu verletzen - und bebte vor Angst und den Nachwirkungen des Geschehens.
"Ich werde immer bei dir sein, Kleintatze. Egal was passiert", versprach sie mit zitternder Stimme und begann, das Blut von der Flanke ihrer Freundin zu waschen.
Sie fühlte sich hilflos und verzweifelt. Ihre beste Freundin lag schwer verletzt vor ihr und sie wusste nicht, wie sie ihr helfen konnte. Aber trotz dieser hoffnungslosen Situation klammerte sie sich an den Gedanken fest, dass alles wieder gut werden würde. Sie spürte eine tiefe Liebe und Verbundenheit zu Kleintatze, die sie nicht verlieren wollte, niemals!
Die Traurigkeit und Angst, die sie zuerst überwältigt hatte, schienen sich langsam zu lichten, als sie immer wieder daran dachte, dass Kleintatze noch lebte. Hoffnung keimte in ihr auf und vermischte sich mit einer starken Entschlossenheit, ihre Freundin zu unterstützen und für sie da zu sein, so, wie diese es für sie gewesen war, wann immer sie sie gebraucht hatte.
Haselpfote schwor sich, jetzt bei Kleintatze zu bleiben, egal was passieren mochte, und egal, was die anderen sagen würden. Sie gab nicht auf, sondern kämpfte weiter und hielt fest an der Hoffnung, dass alles wieder gut werden würde.
Sie ist so schlimm verletzt, dass es besser wäre, sie stirbt! schimpfte eine Stimme in ihr.
Aber die kleine Kätzin fauchte innerlich, vertrieb die Stimme. Nein. Es würde alles gut werden.
Sie musste nur fest genug daran glauben.
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Schneefall - Neugier | Band II
Fanfiction"Im Wald ist es finster geworden. Die Entscheidung liegt jetzt bei uns: Kämpfen oder fliehen?" Im HaselClan herrscht Unruhe. Das bemerkt nicht nur Haselpfote, die ihre Tage wegen Husten im Heilerbau verbringt und die Schwächeren der Katzengemeinscha...