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Freya

Vor der Türe stand eine junge Frau, bestimmt keine zehn Jahre älter als Ace und ich. Höchstens fünfundzwanzig. Mit ihren langen, dunklen Haaren, der blassen Haut und dem roten Kussmund erinnerte sie mich an Schneewittchen. Und ich kann mit vollster Überzeugung sagen, dass das der absolut schönste Mensch war, den ich in meinem Leben je gesehen hatte.

Aber irgendetwas ließ in mir trotzdem alle Alarmglocken läuten und ich spürte, wie jede Faser meines Körpers in den Verteidigungsmodus ging. Das lag bestimmt daran, wie Tante Bev die Frau anstarrte, wie mein Onkel Ally neben sich zog und wie Dad und Trish näher zusammenrückten, um Ace und Dee abzuschirmen. Ich wünschte, ich hätte meinen Bruder nicht ausgesperrt, denn ich hatte keine Ahnung, wie ich wieder in seinen Kopf hineinkommen und wie ich ihn wieder in meinen lassen sollte. Reflexartig tat ich das, was auch die Erwachsenen getan hatten, und schob Finn ein Stück weit hinter mich.

Eigentlich erwartete ich, dass Tante Beverly der Frau gleich die Türe vor der Nase zuknallen, oder zumindest etwas sagen würde, aber das tat sie nicht und die unerwartete Besucherin drängte sich einfach an ihr vorbei ins Haus. Der durch und durch verstörte Blick meiner Tante folgte ihr.

„Meine Güte, ist das lange her! Ihr seid alle so alt geworden..."

Meine Tante war nicht die einzige, der die Frau die Sprache verschlagen hatte. Keiner schien ein Wort herauszubringen und ich wagte es nicht zu sprechen. Dann entdeckte die Frau Ally neben Onkel Aidan.

„Nein, bist du gewachsen!", rief sie entzückt aus.

„Wie bitte?", fragte Ally skeptisch und wich einen klitzekleinen Schritt zurück, hinter ihren Dad. Sie betrachtete die Frau, die sich zu ihr beugte und sie von oben bis unten musterte. Tante Bev schloss die Türe langsam und leise und fast kam es mir vor, als wäre diese Frau eine Bombe, die man bei der kleinsten falschen Bewegung zum Explodieren brachte. Als könne sie damit alles in ihrem Umfeld einfach auslöschen. Perplex betrachtete ich die Szene.

„Happy Birthday!", strahlte sie. „Du wirst heute vierzehn, oder? Ein wichtiger Geburtstag für eine junge Hexe." Ally zog den Kopf noch ein Stück mehr ein. Diese Frau konnte unmöglich eine irre Fremde sein, wenn sie wusste, dass Ally eine Hexe war und heute Geburtstag hatte. Das machte es noch schlimmer „Erinnerst du dich nicht an mich? Wir haben uns vor ein paar Jahren flüchtig gesehen. Bei euch im Garten. Du hast dich mir als Ally vorgestellt."

Etwas an der Art, wie diese Frau sprach, jagte mir Angst ein. Sie war freundlich, aber etwas loderte in ihrer Stimme und ich hatte das Gefühl, dass jedes ihrer Worte von einer Drohung begleitet wurde.

Ally sah unsicher zu ihrer Mom, aber Tante Bev sah sie nicht einmal an. Ihr fassungsloser, wachsamer Blick klebte nach wie vor auf der jungen Frau.

„Und wer sind Sie?", fragte meine Cousine schließlich, weil niemand sie aufklären wollte.

Ein Lächeln umspielte die Lippen der Frau. „Ich habe viele Namen. Ich bin eine Schwester deiner Mutter und ich bin sicher, dass du von mir gehört hast." Sie hob die Augenbrauen und wartete auf eine Reaktion. Ich verstand kein Wort, aber Ally schluckte deutlich, bevor sie noch ein Stück von der Frau abrückte. Sie blinzelte nicht einmal.

„Du bist Odilia."

Das Lächeln auf dem Gesicht der Frau wurde breiter und ich schob Finn vollends hinter meinen Rücken, während ich leise nach Luft schnappte. Odilia war ein Name, den man sich merkte. Es war der Name, der zu der verhasstesten, gefürchtetsten und ältesten, noch lebenden Hexe gehörte, auch wenn ich sie mir ganz anders vorgestellt hatte. Viel von ihr wusste ich nicht, denn keiner redete wirklich über sie. Ich wusste, dass sie eine entscheidende Rolle in einem Jahrzehnte, wenn nicht Jahrhunderte, andauernden Krieg gespielt hatte und trotz aller Bemühungen ihrer Widersacher, darunter auch meine Tante und ihre Familie, entkommen war. Mein Onkel hatte mir einmal erzählt, dass sie sich selbst einmal als Die Unantastbare bezeichnet hatte, was bestimmt passend war, wenn man bedenkt, dass sie von der ganzen Hexengemeinschaft seit Ewigkeiten gesucht, aber nicht gefunden wurde. Jetzt war mir auch klar, warum meine Tante und mein Onkel keinen Versuch unternahmen, diese Fremde rauszuschmeißen. Sie war keine Fremde. Sie war die mächtigste Hexe der Welt und hätte uns vermutlich alle mit einem Fingerschnippen dem Erdboden gleich machen können. Vielleicht sogar diejenigen von uns, in dessen Adern Dämonenblut floss. Ich hatte keine Ahnung, wie weit ihre Magie reichte.

Cold Blood (Band 5)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt