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Die Verzweiflung.

Die Nacht hatte sich längst über die Welt gelegt, und Lucian war allein. Die Stille des Waldes umgab ihn, aber in seinem Inneren tobte ein Sturm. Der Fluch, den Morgana über ihn verhängt hatte, war eine Qual, die er sich in seinen schlimmsten Albträumen nicht hätte vorstellen können. Der Durst nach Blut brannte in ihm wie ein unstillbares Feuer, das seine Gedanken zerfraß und seinen Willen lähmte.

Er hatte versucht, die letzten Reste seiner Menschlichkeit zu bewahren, aber es war, als ob sie ihm aus den Fingern glitt, je mehr er dagegen ankämpfte. Jede Nacht wurde das Verlangen stärker, das Bedürfnis nach Blut überwältigender. Und mit jeder Nacht, die verging, verlor Lucian ein weiteres Stück von sich selbst.

Er dachte an Elena, die einzige Person, die ihm in den ersten Tagen nach dem Fluch Trost gespendet hatte. Doch sie war tot, und ihre Erinnerung war nur noch ein schmerzhafter Stachel in seinem Herzen. Lucian wusste, dass er für ihren Tod verantwortlich war, auch wenn er sie nicht selbst getötet hatte. Die Schuldgefühle nagten an ihm, zerrten an seinem Verstand und ließen ihn an den Rändern der Verzweiflung zurück.

„Was hat sie mir angetan?" murmelte Lucian in die Dunkelheit, seine Stimme kaum mehr als ein heiseres Flüstern. Die Antwort kam nicht, nur das Rascheln der Blätter im Wind, das Rufen eines fernen Vogels. Er war allein, verlassen in einer Welt, die ihm fremd geworden war.

Er erinnerte sich an das, was Morgana ihm gesagt hatte, nachdem sie ihn verflucht hatte. „Du wirst in ewiger Dunkelheit leben, Lucian. Für immer durstig, für immer allein. Jede Seele, die dir nahe kommt, wird unter deinem Hunger leiden. Deine Einsamkeit wird dein einziger Begleiter sein."

Lucian spürte, wie die Bitterkeit in ihm aufstieg, aber gleichzeitig war da etwas anderes – eine Art Akzeptanz. Er konnte es nicht ändern. Er war nicht mehr der Mann, der er einmal gewesen war, und er wusste, dass er nie wieder derselbe sein würde. Das Monster, zu dem er geworden war, verlangte nach Blut, und früher oder später würde er nachgeben müssen.

Die Tage vergingen in einer quälenden Wiederholung aus Verlangen und Widerstand. Lucian durchstreifte die Wälder, hielt sich von den Dörfern fern, aber das war keine Lösung. Er konnte das unvermeidliche nicht ewig hinauszögern. Der Durst wurde immer stärker, seine Gedanken immer dunkler. Er fragte sich, wie lange er noch widerstehen konnte, bevor er jemandem das Leben nehmen würde. Die Antwort war ihm erschreckend klar – nicht mehr lange.

In einer mondlosen Nacht, als die Dunkelheit am tiefsten war, traf Lucian schließlich eine Entscheidung. Er konnte nicht länger warten, nicht länger kämpfen. Der Durst hatte ihn zermürbt, und seine Menschlichkeit war nichts mehr als eine ferne Erinnerung. Mit einem schweren Herzen machte er sich auf den Weg zu dem nächsten Dorf. Er wusste, dass er die Schwelle überschritten hatte, von der es kein Zurück mehr gab.

Seine Schritte waren lautlos, als er durch die schmalen Straßen des Dorfes schlich. Die Fenster der kleinen Häuser waren dunkel, die Bewohner tief im Schlaf. Lucian fühlte sich wie ein Raubtier auf der Jagd, sein Instinkt scharf, sein Verlangen überwältigend. Er hielt inne, als er das leise Atmen eines Mannes hörte, der vor seinem Haus saß und in die Nacht hinaussah.

Lucian trat näher, sein Herz hämmerte in seiner Brust. Der Mann hob den Kopf und starrte ihn überrascht an, aber bevor er etwas sagen konnte, hatte Lucian bereits zugegriffen. Er spürte, wie seine Zähne in den Hals des Mannes fuhren, das Blut warm und lebendig auf seiner Zunge. Es war ein Rausch, eine überwältigende Befriedigung, die seine Sinne erfüllte und den Durst endlich stillte.

Doch kaum hatte er sich von seinem Opfer gelöst, überkam ihn die Realität dessen, was er getan hatte. Der Mann lag reglos auf dem Boden, das Leben aus ihm gewichen, und Lucian fühlte nichts als Leere und Abscheu. Er hatte seine Menschlichkeit verloren, und das Monster in ihm hatte gesiegt.

Lucian blickte auf seine blutverschmierten Hände und wusste, dass es keinen Weg zurück gab. Der Fluch hatte ihn vollständig verschlungen, und er war nun das, was Morgana aus ihm gemacht hatte – ein Jäger der Nacht, ein Wesen, das von Blut lebte und nur Dunkelheit in sich trug.

Doch trotz der Verzweiflung und des Hasses auf sich selbst verspürte Lucian auch eine seltsame Art von Akzeptanz. Dies war nun seine Realität, seine Existenz. Er war allein in dieser Welt, und niemand würde ihm helfen können. Es gab keinen Platz mehr für Hoffnung, nur für das Überleben. Er war gefangen in einem Körper, der ihn zu einem Mörder machte, und sein Durst würde niemals enden.

Langsam erhob er sich, ließ den leblosen Körper des Mannes zurück und verschwand in der Nacht. Die Dunkelheit war sein Zuhause, und der Durst sein ständiger Begleiter. Er wusste, dass er von nun an allein durch die Welt streifen würde, ein Schatten, der nie zur Ruhe kommen würde.

Doch tief in seinem Inneren, verborgen unter Schichten von Schuld und Schmerz, blieb ein Funke. Ein kleiner, schwacher Funke, der ihm sagte, dass es vielleicht, irgendwo, doch eine Möglichkeit gab, den Fluch zu brechen. Vielleicht war es nur eine Illusion, eine Hoffnung, die ihm nichts bringen würde. Aber solange dieser Funke existierte, würde er weiterleben, weiter suchen – auch wenn es für immer war.

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Nach so einem Kapitel bekomme ich immer Hunger!

Wie sieht das bei euch aus?
Lasst es mich gerne in die Kommentare wissen!

Lucian - der Erste VampirWo Geschichten leben. Entdecke jetzt