Eins

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Eins ( Montag, 09. September 2013, Ipswich, England)

Gina:

Ich fühle mich wie eine Fremde in meinem eigenen Leben. Vielleicht ist das normal bei Teenagern eine Identitätskrise zu haben. Ich weiß es nicht, das ist aber auch irrelevant, weil ich niemanden habe, den es interessieren könnte.

Manche Leute denken, dass sie Probleme haben, wenn ihre Klamotten nicht richtig sitzen, oder sie nicht "beliebt" genug sind. Naja, was soll ich sagen? Ich bin nicht beliebt oder so und ich lebe immer noch.

Meine trüben Gedanken mögen sich vielleicht im ersten Moment Mitleid suchend anhören, aber ich brauchen und will kein Mitleid mehr. Dafür ist es zu spät.

„Gini? Ich denke, du hast mir heute genug geholfen. Geh nach Hause." Reist mich Mrs. Robberts aus meinen Gedanken. Ich nicke und lächle sie an. Sie ist meine einzige wirkliche "Freundin", wenn man das so sagen kann. Die gute Frau ist immer hin schon fast 80, aber sie akzeptiert mich, anders, als die meisten. Ich arbeite in meiner Freizeit auf ihrem Hof, so dass ich keine Stallmiete oder so was zahlen muss.

„Ich bringe nur noch eben schnell Diana auf die Koppel, dann fahre ich nach Hause, wenn das okay ist?" sage ich und sie lächelt mich ein letztes mal an, bevor sie mit einem „Danke." Davon humpelt. Ich nehme Dianas Strick und führe sie aus dem Stall, über den Hof zur Koppel. „Nah dann los zu deinen Freunden Süße." Murmele ich, mehr zu mir selbst, als zu meinem Pferd. Anders als ich ist Diana etwas sehr besonderes. Sie ist eine Konik-Stute und gehört damit zu den Wildpferden. Sie ist eher gräulich und hat blonde natürliche Highlights in der Mähne und in ihrem Schweif.

Mit einem letzten Seufzer mache ich auf dem Absatz kehrt und mache mich auf den Weg nach Hause. Nach Hause, wo ich mich trotzdem nicht willkommen fühle. Nicht geborgen, eher, wie ein Gast.

Nicht, dass mich meine Eltern nicht gut behandeln würden oder so, nein das ist es nicht. Ich habe nur nicht das Gefühl dazu zu gehören.

~~~

„Ich bin wieder da!" rufe ich in die Wohnung hinein, während ich meinen Schlüssel aus dem Schloss der Wohnungstür ziehe und meine dreckigen Reitstiefel in die Ecke kicke. „Ja, Schatz. Ich telefoniere gerade mit deiner Mom. Du kannst ja schon mal den Tisch decken. Ich bin gleich so weit."- „Ist okay. Sag Mom einen Kuss von mir. Und sie soll heil von ihrem Kongress wieder kommen." Er nickt und verschwindet wieder in sein Büro, während ich mich Kopfschüttelnd auf in die Küche mache, wo schon eine Pizza im Ofen backt. Leise vor mich hin summend nehme ich zwei Teller aus dem an der Wand hängenden Schrank und stelle sie auf den Tisch, außerdem hole ich noch zwei Gläser aus dem Schrank. Zufrieden, mit meinem Werk verlasse ich die Küche, um meinen Dad zum Essen zu holen.

Die Tür zu Dads Arbeitszimmer steht einen Spalt breit offen, so dass ich ein paar Gesprächsfetzen heraus höre, die meine gesamte Welt auf den Kopf stellen sollten.

„Sie ist noch nicht bereit dafür, Alt genug vielleicht, aber nicht stark genug... Nein, du verstehst das vollkommen Falsch Schatz. Natürlich will ich es ihr sagen. Dann könnten wir endlich aufhören zu lügen... Ja... Nein, was glaubst du denn wie sie reagiert, wenn ich mich gleich zu ihr an den Tisch setzte: "Es tut mir Leid, aber du gehörst nicht so zu uns, wie du denkst. Wir lieben dich, wie unsere eigene Tochter, auch, wenn du das gar nicht bist." Das kann ich nicht machen." Hatte er aber soeben getan, auch, wenn es aus Versehen war. Und es war genau das, was er gesagt hatte, nämlich unmöglich! Meine Welt brach mit diesen wenigen Sätzen zusammen. Nein, das tat sie nicht, denn ich hatte ja, wie bereits erwähnt, eh nicht das Gefühl gehabt dazu zu gehören. Trotzdem hinterließ dieses Telefonat Spuren.

Ganz leise schleiche ich mich zurück in die Küche, wo ich auf meinen " DAD" warte. „Sorry, dass es länger gedauert hat." Entschuldigt sich der Mann, den ich für meinen Vater gehalten habe. „Kann ja mal passieren." Antworte ich und beschließe gute Miene zum Bösen Spiel zu machen.

Nach dem Essen verdrücke ich mich auf mein Zimmer, wo ich zum ersten Mal nach dem Geständnis meinem Gedanken freien Lauf lasse.

Warum wurde ich adoptiert? Warum haben sie es mir nicht früher gesagt? Wer sind meine richtigen Eltern? Habe ich vielleicht sogar Geschwister?

Diese Fragen und noch viele mehr wirbelten in meinem Kopf herum und rauben mir den Schlaf. Und es gibt nur eine Möglichkeit, wie ich sie beantworten kann. Ich muss zum Jugendamt.

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