Zwei

33 4 0
                                    

Zwei (Dienstag, 10. September 2013, Ipswich, England)

Gina:

Die Schule zog sich heute, wie Kaugummi. Ich hatte den ganzen Tag nur auf den jetzt gleich folgenden Moment gewartet. Ich würde mit dem Betreten des vor mir liegenden Raumes endlich alle meine Fragen beantwortet bekommen.

Eine nette blonde, seriös wirkende Frau hatte mich zu diesem Büro verwiesen, als ich sie gefragt hatte, wie ich meine leiblichen Eltern finden konnte. Ich atme noch einmal tief durch, bevor ich an die Tür klopfe. „Herein!" ruft eine hohe Stimme hinter der Tür. Ich betrete den steril wirkenden Raum zögerlich. „Hallo, mein Name ist Mrs. Maren. Was kann ich für sie tun?" fragt eine Frau mittleren Alters mich, als ich den Raum betrete. „Ähm, ich wollte eigentlich..." Sie unterbricht mich. „Komm setzt dich erst mal." Ich gehorche und lasse mich auf den mit Leder bezogenen Stuhl vor ihrem Schreibtisch fallen. „Ich habe, wie soll ich sagen, durch einen blöden Zufall heraus gefunden, dass meine Eltern nicht meine Eltern sind, sondern ich nur adoptiert bin, und deshalb möchte ich jetzt meine leiblichen Eltern finden und ich dachte, dass sie mir da vielleicht helfen könnten." Verlegen verstumme ich. Sie legt den Kopf schief und mustert mich. „Und wie heißt du meine Liebe?" fragt sie . „Mein Name ist Gina Hastings." –„Okay. Und wie heißen deine Eltern?" will sie danach wissen. „Meine Mom heißt Isabelle Hastings und mein Dad Mike Hastings." Sie nickt und tippt die Informationen in rasender Geschwindigkeit in ihren Computer. „Okay, also du bist im Jahr 1999 aus Wolverhampton adoptiert worden und mehr kann ich dir leider nicht sagen, ohne deine leiblichen Eltern zu kontaktieren. Ich werde dich anrufen, wenn sie zu einem Treffen zustimmen, dann kannst du sie kennen lernen, ansonsten musst du warten bis du 21 bist." Sie sieht mich bemitleidend an. Ich nicke bloß wie betäubt, weil ich erst einmal alle Informationen verarbeiten muss. „Danke." Sage ich verlasse den Raum, nachdem ich ihr meine Nummer dort gelassen habe.

In Gedanken versunken fahre ich vom Jugendamt mit dem Bus zum Hof von Mrs. Robberts, um ihr zumindest den Rest des Nachmittags zu helfen. Um sechs mache ich mich aber auch schon wieder auf den Heimweg, auch wenn zu "Hause" gerade der einzige Ort ist, an dem ich nicht sein möchte.

„Ich bin wieder zu Hause!" rufe ich von der Wohnungstür, wobei ich die Worte " zu Hause" komisch betone, so als würde es mir schwer fallen sie auszusprechen. Niemand antwortet mir, woraus ich schließe, dass Mike, ich habe beschlossen, dass ich ihn in Gedanken nicht mehr Dad nennen werde, nicht da ist, was mich nicht stört. Ich zucke mit den Schultern und gehe in die Küche, wo mich vom Küchentisch ein Zettel begrüßt. „Ich bin bei den Nachbarn. In der Mikrowelle ist was zu Essen. Du kannst auch rüber kommen, wenn du willst. Es könnte noch etwas länger dauern, wir gucken Fußball. Hab dich lieb Papa"

Ich stelle die Mikrowelle an, ohne auch nur im Ansatz darüber nach zu denken ebenfalls zu unseren Nachbarn zu gehen. Ich will einfach nur ins Bett. Die letzten Tage haben mich müde gemacht.

Im Bett denke ich über das nach, was ich weiß. Ich bin im Alter von zwei adoptiert worden. Die Frage ist immer noch warum? Und Wer meine leiblichen Eltern sind weiß ich auch immer noch nicht. Auch nicht, ob ich Geschwister habe, die vielleicht sogar dasselbe Schicksal, wie ich teilen. Wahrscheinlich wollten sie mich gar nicht haben, so wie mich eigentlich keiner will. In der Schule nicht mal zur Freundin, geschweige den als feste Freundin, oder hier zu Hause, wo ich auch kaum was von meinen Eltern habe.

Ich muss mich an eine Geschichte erinnern. Sie ist schon etwas her, aber sie ist unvergesslich.

Flashback:

Die Schulabschluss Party der achten Klassen steht bevor und alles dreht sich nur darum, wer mit wem dahin geht. Ich hoffe ja immer noch, dass Nick mich fragt, ob ich mit ihm hin gehe, auch wenn das vollkommen unmöglich ist. Er ist mit Abstand der heißeste und beliebteste Junge der Schule und ich bin ein nichts. Habe keine Freunde, Werder echt noch gefackte.

Es ist eine Woche vor der Party und ich habe schon alle Hoffnungen aufgegeben, als mich nach der Schule plötzlich Nick anspricht. „Hey, Gina. Warte mal." Ruft er. Ich bleibe mit einem breiten Lächeln auf dem Gesicht stehen und drehe mich zu ihm um. „Ich wollte dich etwas fragen." Sagt er, als er mich einholt. „Du weißt doch, dass in ein paar Tagen die Abschluss Party ist?" Ich nicke nur, unfähig etwas zu sagen oder zu denken. „Okay, also ich wollte dich fragen, ob du schon eine Verabredung hast?" Ich schüttle meinen Kopf. „Okay, cool. Ich dachte, dass wir zwei eventuell zusammen hin gehen könnten." –„Klar, warum nicht." Antworte ich, wobei mir meine Stimme fremd ist. „Cool, dann treffen wir uns da." Sagt er und geht wieder. Ich setze meinen Weg nach Hause fort. Ich habe die ganze Zeit dieses dämliche Grinsen auf den Lippen, auch am nächsten Tag in der Schule.

In der Pause spreche ich Nick an, um ihn zu fragen, wann wir uns treffen. Er lacht. „Hast du wirklich geglaubt, dass ich mit jemandem wie dir zu dieser Party gehe? Hast du sie noch alle? Ich meine guck dich doch mal an. Du bist fett und hässlich und du hast keine Freunde. Die bleiben nicht weg, weil du so toll bist weißt du." Und dann geht er und lässt mich, den Tränen nahe auf dem Schulhof stehen.

Dieser Tag war der mit Abstand schlimmste in meinem Leben, welcher mich auch zu einer ziemlich abstoßenden Angewohnheit gebracht hat. Dem Ritzen.

Vertieft in diese traurigen Gedanken schlafe ich ein.

***

IrresistibleWo Geschichten leben. Entdecke jetzt