IX. Einsturz

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Gerade als ich mein Buch zur Seite legte, hörte ich etwas. Das Gewitter war inzwischen laut, aber es war nicht der Grund, warum ich hellhörig wurde. Nein, ich hörte, wie die Leute riefen, dass die Casita Madrigal eingestürzt sei.

So schnell war ich, glaube ich, noch nie auf meinen Füßen gewesen. Die Tür hatte ich schnell aufgerissen. Die panischen Rufe der Bürger wurden lauter und ich stoppte die Erste, die ich sah, was meine Nachbarin war.

Sie sah mich verängstigt an, bevor sie mich in ihre Arme nahm. Ich war überrumpelt von ihrer Reaktion, da wir bisher nicht viel miteinander zu tun hatten. Doch als ich bemerkte, dass sie zitterte, ob nun vor Kälte oder Panik war mir unklar und auch offen gesagt egal, löste ich mich von der Umarmung und zog sie zu mir ins Haus. Schnell legte ich ihr eine Decke über die Schulter und rieb ihr über den Rücken, um sie zu beruhigen.

Sie atmete hektisch und auf meinen fragenden Blick hin fing sie in hoher Geschwindigkeit an zu erzählen. Sie stolperte öfter über ihre Wörter, aber ihre Nachricht kam trotzdem an.

Zuerst spielten die Kräfte der Madrigals außer Kontrolle und dann stürzte das Haus ein. Keiner wusste warum.

Mein Haus war fast am anderen Ende des Dorfes, weshalb ich die Casita nicht sehen konnte. Auch die vielen Kakteen auf der Hauptstraße zur Casita Madrigal, von denen meine Nachbarin berichtete, hatte ich nicht bemerkt. Aber ich war auch den ganzen Tag in mein Buch vertieft gewesen.

Doch ein Satz von ihr ließ mir das Blut in den Adern gefrieren. "Mirabel ist verschwunden."

Ich war schon kurz davor aufzuspringen und zur Casita zu rennen, bis mir einfiel, dass ich vorher meine Nachbarin zu ihrem Haus bringen sollte. Sie hatte sich zwischenzeitlich etwas beruhigt, weshalb ich mir keine größeren Sorgen mehr um sie machte. Sie merkte anscheinend auch schnell, dass ich lieber wegwollte, weshalb sie ohne große Umschweife meine Decke zurückgab und zu ihrem Haus ging. Als die Tür hinter ihr ins Schloss fiel, hatte ich mich schon umgedreht und bin Richtung Hauptstraße gerannt.

Die Kakteen, die fast die ganze Straße zierten, umrundete ich gekonnt und stoppte erst, als ich die Casita sah. Oder zumindest die Überreste davon.

Das Gewitter hatte aufgehört, nur dunkle Wolken waren noch am Himmel zu sehen. Einige Bewohner schleppten Trümmer der ehemaligen Casita Madrigal zur Seite, während mein Blick auf der Suche nach irgendeinem Familienmitglied war.

Dolorian war der Erste, den ich sah. Mir fiel ein Stein vom Herzen, als ich bemerkte, dass er unverletzt war, aber gleichzeitig hörte ich es förmlich brechen, als ich merkte, wie aufgewühlt er war. Meine erste Reaktion war, ihm die Arme um den Körper zu schlingen. Kurz versteifte er sich, bevor er mich ebenfalls umarmte und den Kopf auf meinem ablegte.

"Mirabel ist weg. Die Kerze ist aus." Er stockte kurz, bevor er noch hinzufügte: "Ich höre nichts mehr." Wieder eine kurze Pause. "Also, ich höre noch, aber ich habe keine Gabe mehr. Keiner hat seine Gabe mehr. Ich höre so wie du."

Ich wusste nicht, was ich dazu sagen sollte, weshalb ich ihn einfach fester umarmte. Er seufzte nur.

"Wie soll ich Mirabel finden, wenn ich nichts hören kann?" Er murmelte die Frage in mein Haar, weshalb ich mir gar nicht sicher war, ob er sie mir oder sich selbst gestellt hatte. Ohne groß auf seine Frage einzugehen, löste ich mich aus der Umarmung, nahm seine Hand und zog ihm von dem Haus weg. "Wir suchen einfach", hatte ich nur gesagt.

Nun, so hatte ich mir meine Nacht wirklich nicht vorgestellt. Mit Dolorian Hand in Hand (darüber möchte ich mich nicht beschweren) die halbe Waldfläche um das Encanto ablaufen, nur um Mirabel trotzdem nicht zu finden. Währenddessen musste ich Dolorian dabei zusehen, wie er immer, nachdem er nach Mirabel gerufen hatte, seinen Kopf schief legte, um zu hören, nur um die Schultern gleich wieder fallen zu lassen.

Oft mussten wir Pause machen, weil wir beide mit der Zeit immer müder wurden, doch schlafen konnten wir nicht, solange Mirabel noch vermisst war.

Erst als die Sonne schon wieder ein paar Stunden aufgegangen war, hörten wir, wie jemand rief, dass Mirabel wieder da war. Schnell rannten wir zurück zur zerstörten Casita, deren Anblick mir immer noch einen Schauer über den Rücken jagte. Zwar sah es jetzt in der Sonne wesentlich freundlicher aus als gestern, aber die Trümmer der magischen Casita zu sehen, war trotzdem kein schöner Anblick.

Ich ließ der Familie vortritt, als wir ankamen und gesellte mich zu den anderen Bürgern, die wenig später dazu kamen. Auch meine Eltern fand ich in der Masse wieder.

Erstaunlicherweise machte auch Bruno wieder einen Auftritt und Alma hieß ihn mit offenen Armen willkommen. Zuerst war ich geschockt, da Bruno die letzten Jahre immer so verflucht wurde, aber ich persönlich hatte nie etwas gegen ihn. Deshalb freute mich diese Wandlung wirklich für ihn und die Familie. Vielleicht brauchte es wirklich ein Desaster, um alles wieder geradezurücken.

Zwar hatten sie auch ihre Gaben und ihr Haus verloren, doch wenigstens das Hausproblem konnte das Encanto vorübergehend beheben.

Jedes Haus, das noch freie Gästezimmer hatte, bot es der Familie Madrigal an. Auch ich war mir dabei, immerhin hatte mein Haus ein Gästezimmer, was ich erst entstauben müsste, aber egal. Und wer hätte es gedacht? Dolorian meldete sich da auch gleich freiwillig, worüber sein Teil der Familie belustigt tuschelte.

Da ich allerdings wirklich keinen Nerv hatte und einfach in mein Bett wollte, signalisierte ich Dolorian recht zeitnah, dass ich gehen wollte.

Er hatte gar nicht lange diskutiert, bevor wir uns auf den kleinen Fußmarsch zu meinem Haus aufmachten.

Und nachdem ich im Halbschlaf das Gästezimmer hergerichtet hatte, wobei Dolorian mir mehr im Weg herumstand, als helfen konnte, fiel ich förmlich in mein Bett.


Veränderte Zukunft (m. Dolores Madrigal - Encanto)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt