Inzwischen sind mehrere Wochen vergangen. Wir hatten damals ganz kurz Antonios bevorstehende Gabenzeremonie besprochen, doch das Thema wurde recht schnell wieder unter den Teppich gekehrt. Der Hauptgrund dafür war, dass nicht ganz klar war, ob Antonio überhaupt eine Gabe bekam. Vor zehn Jahren, als Mirabel ihre Zeremonie hatte, lief nämlich etwas schief. Sie bekam keine Gabe. Ihre Tür, die eigentlich aufleuchten und die Gabe zeigen sollte, verschwand. Keiner wusste warum. Bei Camilo wenige Monate vorher, hatte alles funktioniert, aber bei Mirabel nicht. Seitdem gab es keine Gabenzeremonie mehr. Antonio war der nächste.
Dolorian hatte mir schon öfter erzählt, dass er sich Sorgen machte. Und damit war er nicht der Einzige. Fast jeder im Dorf tuschelte über die Möglichkeit, dass diese Zeremonie ebenfalls schiefgehen könnte. Und wenn ich das Getuschel schon hörte, wollte ich gar nicht wissen, was Dolorian alles mitbekam.
Seufzend strich ich die Falten aus meinem roten Kleid und sah mich im Spiegel an. Heute war es so weit. Antonio bekam seine Gabe, oder eben nicht. Ich kontrollierte noch einmal meine Tasche. Geräuschunterdrückende Kopfhörer nahm ich immer mit, wenn ich irgendwo hinging, wo es potenziell laut werden konnte. Bei einer Gabenzeremonie durften sie also nicht fehlen.
Als ich aus der Haustür trat, gingen die Bewohner schon Richtung Casita Madrigal. Ich schloss mich ohne große Umschweife der Masse an. In der Dämmerung leuchteten die Wunderkerzen, die die Kinder in den Händen hielten, hell. Das sanfte Lächeln konnte ich mir nicht verkneifen.
Ein abwertendes Lachen in meiner Nähe ließ mich verwundert in die Richtung blicken. Ich hätte es nicht machen sollen. Da lief Mateo mit seiner ach so tollen Freundesgruppe und nahm gerade die Hand runter, die kurz davor auf mich gezeigt hatte. Unauffällig konnte er noch nie.
Ich versuchte es mir nicht zu Herzen zu nehmen. Immerhin war alles schon Wochen her. Die physischen Wunden waren geheilt, aber emotional waren noch ein paar Baustellen da.
Das Kleid, das ich trug, war lang. Ich wusste nicht, was er nun schon wieder auszusetzen hatte und ich sollte mir darüber auch wirklich keine Gedanken machen. Kopfschüttelnd drehte ich mich wieder zurück und sah zu den Kindern, die freudig lachend durch die Gegend liefen. Ich setzte ebenfalls ein Lächeln auf.
An der Casita angekommen, wurde ich von Camilo empfangen. Als er sich in mich verwandelte und mich mit seiner Stimme begrüßte, erreichte mein Lächeln jetzt endlich meine Augen. "Hola, Yuliza. Schön, dass du da bist." Er betonte meinen Namen besonders, aber in dem Moment dachte ich mir nichts dabei.
Camilo ging zum nächsten Gast über, während ich mich im Inneren der Casita einfand. Meine Eltern fand ich beim Grill, da mein Vater bei dem Essen mithalf.
Nachdem ich die beiden begrüßt hatte, lief ich durch den großen Innenhof und genoss die schöne Musik. Gelegentlich stibitzte ich mir noch etwas Süßes von dem Tablett, was Luisa, Dolorians Cousine, herumtrug. Ihre Gabe war die Superstärke.
Der Zucker zerging mir gerade auf der Zunge, als ich noch ein Kichern hörte, was mir nur zu bekannt war. Mateo war wieder in der Nähe. Wahrscheinlich hätte ich das erwarten und mich mental darauf vorbereiten sollen, immerhin kommen alle zur Gabenzeremonie, aber irgendwie hatte ich es vergessen. Ich hatte ihn vergessen, was gut war, aber jetzt bin ich mir da nicht mehr sicher.
"Ach, hier bist du. Ich habe dich schon überall gesucht", hörte ich eine bekannte Stimme, die mir ein Lächeln auf die Lippen zauberte.
Dolorians Sichtweise
Sie sah absolut fantastisch aus. Ich hatte gar nicht die Worte, um zu beschreiben, wie schön sich aussah. "Das Kleid solltest du öfter tragen, du siehst fabelhaft aus." Lizas Lächeln wurde noch etwas breiter, was mir ein angenehmes Kribbeln in der Bauchregion schaffte. Sie glücklich zu sehen, machte mich glücklich.
Und sie von diesem Mistkerl abzulenken, war das Mindeste, was ich tun konnte. Ich wusste nicht, ob sie es gehört hatte. Ich hoffte nicht. "Sieh sie dir doch an. Keine zwei Monate ist sie allein und schon sind die Kleider enger als vorher. Ich will nicht wissen, wie viele sie von den Süßigkeiten schon gegessen hat."
Wäre ich nicht bei meiner Familie gewesen, um Antonio vorzubereiten, hätte ich Liza gleich empfangen können. Camilo hat sie ja netterweise angekündigt, auch wenn ich mir dafür sicher noch den ein oder anderen Kommentar anhören durfte. Aber so durfte ich erst einmal zuhören, wie ihr Ex sie beleidigte, während ich nicht direkt hingehen konnte.
Doch jetzt war ich da und sollte keinen weiteren Gedanken an den Typen verschwenden, wenn ich sie vor Augen hatte.
"Na komm, es geht gleich los", meinte ich nur, bevor ich ihre Hand nahm und sie mit zur Seite zog. Die Bürger des Encanto gaben einen Weg vom Eingang bis zur Treppe frei, wo Antonio gleich entlanggehen sollte.
Abuela stand schon am Fuße der Treppe mit der magischen Kerze. Ich konnte hören, wie das Feuer knisterte, während ich das Tuscheln der Leute ignorierte.
Julieta, Augustín, Luisa, Isabela und Camilo stellten sich noch zu uns. Meine Eltern standen am Ende der Treppe neben Antonios zukünftiger Tür. Als meine Familie sich um uns herum stellte, bemerkte ich, wie Liza versuchte, meine Hand loszulassen. Ich sah fragend zu ihr herunter, aber sie blickte nur auf unsere Hände, während sie vorsichtig ihre Hand aus meiner zog. Konnte man die Wärme einer Person sofort vermissen? Ich hatte das Gefühl, ich tat es.
Vorsichtig beugte ich mich zu ihr herunter. "Du kannst gern hierbleiben. Keinen stört es, wenn du in der ersten Reihe stehst." Mal abgesehen von dem Raunen, was aus Mateos Richtung kam, und dem Getuschel von ein paar Mädchen. Von den Tratschtanten hatte ich aber auch nichts anderes erwartet. Vielleicht war das aber auch der Grund, warum Liza weggehen wollte.
Sie sah mich kurz an und ich konnte sehen, wie sie überlegte. Als Abuela dann aber anfing zu sprechen, blieb sie einfach neben mir stehen, was ich als gutes Zeichen wertete.
Die Worte, die Abuela sprach, waren identisch zu denen, die sie bei jeder Gabenzeremonie sprach, doch ich hörte sie trotzdem gern. Etwas ferner hörte ich leise das Piepsen von Mäusen und eine Stimme, die den Tieren zuflüsterte, dass sie leise sein sollten. Aber über meinen Onkel Bruno wird ja nicht mehr gesprochen. Ich glaube, ich war der Einzige, der wusste, dass er noch hier war.
Die Musik fing wieder an zu spielen und die Leute jubelten, als Antonio hinter dem Vorhang erschien, wobei ich nur gezwungen lächeln konnte, da es so laut war. Ich verstand nicht, warum sie immer noch so laut waren, obwohl jeder wusste, was meine Gabe war. Wahrscheinlich musste ich einfach damit leben.
Antonio ging zuerst nicht vorwärts. Erst, als Mirabel mit ihm zusammen zur Tür ging, lief er. Die Menschen um mich herum wurden schlagartig still, aber ich konnte nur lächeln. Antonio hing schon immer an Mirabel.
Als Antonio dann endlich an der Tür ankam, nachdem er die Kerze berührt hatte, hielten alle, mich eingeschlossen, die Luft an. Doch dann leuchtete die Tür auf und ein Papagei landete auf Antonios Arm.
Ich hörte, wie Liza neben mir in ihrer Tasche kramte, doch meine Augen waren auf meinen kleinen Bruder fokussiert. "Ja, klar. Ich verstehe dich", hörte ich ihn sagen, nachdem er Papagei einige Laute von sich gegeben hatte. Stolz lächelte ich meinem Bruder zu, auch wenn ich wusste, dass er es nicht sah, während ich mich mental dafür wappnete, dass gleich das Feuerwerk losging. Jede Gabenzeremonie war es das Gleiche. Aber wenigstens waren sie schön anzusehen, wenn sie mir schon höllische Ohrenschmerzen bereiten.
Nach einem "Natürlich dürfen sie auch kommen" von Antonio kam eine ganze Schar von Tieren in unsere Casita, bevor sie in Antonios Zimmer verschwanden.
"Wir haben eine neue Gabe", gab Abuela das Stichwort für das Jubeln und das Feuerwerk. Ich wollte mir gerade die Hände an die Ohren halten, als ich merkte, wie mir jemand etwas über die Ohren stülpte.
Schnell legte ich die Hände darauf, nur um Kopfhörer zu finden und Lizas Hände, die sie gerade wegzog. Als ich zu ihr sah, hielt sie sich selbst schon die Ohren zu und lächelte.
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Veränderte Zukunft (m. Dolores Madrigal - Encanto)
FanfictionAls Dolorian seiner besten Freundin Yuliza nach viel zu langer Zeit aus ihrer arrangierten, toxischen Beziehung half, konnte keiner vorhersehen, was als Nächstes geschah. Oder wusste es doch jeder und nur die beiden nicht? Cover: Original von Net au...