G366ja (2)

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Ich habe Deine Geschichte mehrmals lesen müssen, weil sie mich doch sehr verunsichert hat – das kommt nicht selten vor. Ich war mir nicht sicher – ist das brillant oder redundant (wenn ja, was von beidem oder beides?)? Ist das eine Art Selbstzeugnis? Ist das die brutale Fiktion einer möglichen Kindheit? Ich das ein literarisches Kammerspiel, das den Leser an der Nase herumführen soll? Oder ist es eine Horrorgeschichte – über die Abgründe des Menschenmöglichen und dessen scheinbare Legitimität (die ich mir selbst zuspreche)?

Diese Gedanken kamen mir, als ich Deine Geschichte gelesen habe. Ich möchte daher diese Kritik nicht zwingend anhand des Rasters abarbeiten (bzw. nur kurz), sondern dem nachgehen, was mich beim lesen bewegt hat.

Sprachlich ist alles in Ordnung, die Wortwahl finde ich angemessen, heikel ist immer etwas, wenn man sich in jüngere fiktive Ichs imaginiert. Das kann nach hinten losgehen, das hast Du aber gut gemeistert.

Man kann sich immer fragen: „würde Kinder das so oder so sagen" oder „würden sie so oder so handeln". Ich halte die Figuren eigentlich eher für Platzhalter einer allgemeinen Idee und als solche durchaus nicht so wichtig, wie man sie nehmen könnte. Sie agieren die Idee auch nicht durch ihr Handeln aus, sondern in meinen Kopf ist die Idee (hier: die Gerechtigkeit) eine Autofiktion, eine Folie, vor deren Hintergrund her die Protagonistin sich bespiegelt und betrachtet. Sie existiert gewissermaßen doppelt (und tut das auch faktisch) und verankert sich in dieser Idee. Natürlich verliert sich dadurch den Bezug zu Realität, reagiert auf die Anmaßungen der Welt mit eigenen grausamen, bedachten und unverhohlenen Anmaßungen.

Was mich fasziniert ist die Unabgeschlossenheit des Ganzen – was, wenn sie mit ihren Befürchtungen über ihre Mitmenschen Recht hätte? (hat sie nicht) – was, wenn sie weitermachen würde, wie bisher? (das würde sie vermutlich) – was, wenn die Welt ihr weiterhin unverhohlen unverständlich gegenüberstünde – wie soll das enden? Aus der Geschichte heraus entspinnen sich für mich zahlreichen Stränge in ganz verschiedene Richtungen – und die meisten davon empfinde ich als unheimlich bis sehr verstörend.

In meinen Augen ist diese Geschichte daher auch keine über Moral, oder über das Richtige/das Falsche – ich empfinde sie eher als Lehrstück über Furcht, über das, was sie mit uns macht und vor allem, wie sie unseren Blick lenkt – und damit vielfach auch unser Handeln.

Von der Komposition her ist alles passend aufgebaut, es gibt einen nachvollziehbaren Handlungsstrang mit persönlichen Entwicklungen. Die Figuren wie angedeutet empfinde ich als nicht so präsent als Individuen, aber damit kann ich gut leben, weil ich das (hinterher!!) nicht mehr als so entscheidend für die Wirkung der Geschichte erachte. Statt „Kleines" hätte sie auch „Null" oder „Orkus" heißen können, das spielt kaum eine Rolle (für mich als Leser – nicht für sie selbst darin, wie sie sich selbst wahrnimmt – eben als „klein" und rechtmäßig und verkannt). Dominant ist eindeutig der philosophische Unterton – was mir als jemand, der das studiert hat, sehr gefallen hat, auch wenn ich die Ausführungen zu Recht/Gerechtigkeit (nicht generell) etwas zu wenig komplex finde – aber auch hier: das schmälert die Wirkung nur dann, wenn ich diesen Aspekt gesondert betrachte.

Wer also auf Geschichten mit einmaligen Figuren Wert legt oder auf stimmige Charakterinszenierungen dürfte leicht enttäuscht werden (vielleicht, nicht zwingend). Für mich macht aber genau dieser Aspekt die Geschichte lesenswert – paradox, sicher, aber manchmal sind die Figuren eben nicht die Hauptakteure, sondern das Unfassbare, was sie repräsentieren und die Kluft, die wir mental zu ihrer Art zu sein nicht überwinden können.

Mit kleinen Schwächen im Detail: wirklich gut geschrieben!

Gesamtpunktzahl: 331 (von 382 möglichen Punkten)


Rechtschreibung (60)

Werden die Regeln der Deutschen Rechtschreibung eingehalten? 60 von 60 Punkten (0, 15, 30, 45 oder 60)

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