Drei

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„Das schmeckt jedes Mal so gut", meinte Chan genüsslich. Auch heute hatte sich unser Kumpel übertroffen. Ich inhalierte meinen Teil des Essens förmlich. Jisung plauderte ohne Pausen, wenn er Minhos essen aß, doch heute stocherte er nur im Reis herum. „Changbin? Hast du keine Angst vor Jayuro?", fragte er leise, fast schon ein Flüstern. „Mir ist nur gerade eingefallen, dass du jetzt nach Mitternacht nach Paju fährst." Jisung sprach von der südkoreanische, urbanen Legende über die Geisterfrau Jayuro, die nach Mitternacht auf der Straße zwischen Goyang und Paju auftauchen soll. 

Die Legende besagt, dass sie mitten auf der Straße auftaucht und ganz in weiß gekleidet ist. Außerdem soll es aussehen als würde sie eine Sonnenbrille tragen, die sich als genauen Betrachten als ihre leere, schwarzen Augenhöhle entpuppten. Niemand weiß, was mit ihren Augen passiert war. Jayuro versucht Autofahrer anzuhalten, damit sie sie mitnahmen. Es gibt viele verschiedene Ausschweifungen der Legende, aber ein Ende ist mir bis heute im Kopf geblieben: Jayuro gibt dem Autofahrer Koordinaten, zu den sie gebracht werden möchte. Wenn man ihnen folgte, dann kommt man zu einem Friedhof. Man vermutete, dass sie auf der Straße gestorben war, deswegen spukt sie dort herum.

Ich kannte die Legende schon seit meiner Kindheit. Vor allem da ich in Paju mit der Legende großgeworden bin. Sie liegt förmlich vor meiner Haustür und ich könnte leicht nach Mitternacht auf die besagte Stelle fahren aus reinen Nervenkitzel, aber ich glaube nicht an Geister. Für mich war die Legende immer eine Ausrede, damit Autofahrer besser aufpassen. Wer dir Jayurostraße nicht kannte und zum ersten Mal darüber fuhr, konnte die Gefahr im Nebel nicht erkennen. Da war die Legende einer Geisterfrau, die auf der Straße herumspukte plausibler. Menschen sind sehr leichtgläubig. Auch wenn ich nicht an Jayuro glaubte, war ich bis jetzt nie in meinem Leben nachts die Straße abgefahren und das hatte ich auch bis jetzt nicht vor. Ab heute änderte es sich. „Ich glaube nicht an Jayuro", meinte ich und aß weiter. Jisung lies seine Essstäbchen sinken. Ihm hatte die Geisterfrau wohl den Appetit verdorben. „Ich schon und ich stelle mir das sehr gruselig vor, wenn einfach ein Geist auftaucht. Vor allem nachts. Echt gruselig." Jisung schüttelte sich. Die nächsten Minuten verbrachten wie schweigsam. Ich vermutete, dass Jisung an Jayuro oder an Minho dachte und Chan dachte an seine Arbeit im Casino. In meinem Gedanken ging es um meinen baldigen Feierabend. Apropos Feierabend. Bevor ich den machen konnte, musste ich wieder arbeiten gehen und so verließ ich meine Freunde, um wieder an meinen Posten am Haupteingang zu gehen.

„Dann bis morgen und lass dich nicht von Jayuro bekommen", meinte Chan schelmisch. Ich rollte nur mit den Augen. Jisung hat es wohl hinbekommen, dass Chan mich damit aufzog und auch Felix deutete ein Grinsen an. Was hatte ich nur für Freunde. „Jaja, ich werde schon aufpassen. Bis morgen." Ich zog meine Lederjacke fester um meine gemütliche Kleidung. Es war immer wieder herrlich den engen Securityanzug auszuziehen und in Freizeitkleidung zu schlüpfen. Ich lief über den Parkplatz zu meinem schwarzen Auto. Solange ich inmitten von Goyangs Stadtzentrum war, saß ich locker hinter dem Steuer. Die Uhrzeit zeigte zwar eine Stunde an, in der es gefährlicher war, draußen herumzufahren doch hier lotsten mich Straßenlichter durch den nächtlichen Verkehr hinaus auf die Autobahn. Trotzdem fuhr ich so langsam, sodass mein Hinterfahrer zu hupen anfing und lautstark etwas in meiner Richtung brüllte. Ich lies mich nicht beirren und fuhr weiter mein mäßiges Tempo. Unfälle passierten dann, wenn man nachlässig wurde. Die Stadt lichtete sich und tauschte sich mit einem bergigen Gebiet aus.

Ich mochte den Anblick der Natur hier in der Gegend. Trotz dem gefährlichen Gegend hier, war sie wunderschön. Ich stellte es mir magisch vor, wenn die Sonne hinter den Bergspitzen auf und unter ging und die ganzen Täler in ein goldenes Licht hüllte. Von hier konnte man sogar bis hoch nach Nordkorea sehen. Im Moment sah man nichts davon, sondern nur eine silberne Dunkelheit, erschaffen von dem Mond, der hoch im Himmel stand. Jetzt musste ich aufpassen, denn meine Autoreifen fuhren über den gefährlichen Jayurohighway. Schon von weitem konnte ich den tückischen Nebel sehen, der die Straße vor mir einnahm. Bloß nicht schneller fahren, sondern ganz langsam, ermahnte ich mich und zitterte etwas, während ich mein Lenkrad umklammerte. Um mir die Angst etwas zu nehmen und nicht allzu auf den weißen Nebel vor mir zu denken, dachte an Jisungs Worte nach. Jetzt wo die Uhrzeit weit nach Mitternacht anzeigte, musste die Geisterfrau im Nebel zu sehen sein. Ich lachte trocken auf. Das hatte ich gebraucht. Einfach über etwas Sinnloses zu denken.

Langsam manövrierte ich mein Auto in den Nebel rein und tauchte in die weiße Endlosigkeit ein. Es war nicht so schlimm wie gedacht. Die Sicht war zwar stark eingeschränkt, doch ich sah immer noch den Weg vor mir und die Leitplanken, die mich vor dem Sicheren Tod durch einen langen Fall schützten. Außerdem half der Mond etwas.

Freedom road (Changjin FF)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt