Kapitel 1

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Mal wieder war ich spät dran. Wundersamerweise konnte ich so früh wie ich wollte aufstehen und war am Ende trotzdem spät dran. Gleichzeitig packte ich meine Tasche für die Uni, checkte noch kurz meine Mails und trank die letzten Schlucke meines Kaffees. Wenn ich mich nicht beeilte verpasste ich noch den Bus und damit auch den Zug und dann würde ich die Vorlesung ebenfalls verpassen. Wie so oft dachte ich mir mal wieder, dass es am besten wäre wenn ich direkt im Hörsaal wohnen würde. Während ich meine Schuhe anzog und überlegte wo ich meinen Hausschlüssel hingelegt hatte eilte ich ins Schlafzimmer und drückte meinem Freund einen Kuss auf die Lippen und verschwand mit den Worten:"Bis heute Abend, pass auf dich auf!". Mein Freund schaute mich nur verschlafen an und murmelte mir etwas zum Abschied zu. Er stand immer eine Stunde später auf um dann zur Arbeit zu fahren.
Ich fand den Schlüssel schließlich in der kleinen Box auf dem Schuhschrank, schnappte ihn mir und eilte die Treppen hinunter um den Bus nicht zu verpassen. Keine dreißig Sekunden nachdem ich an der Bushaltestelle angekommen war kam auch schon der Bus. Erleichtert setzte ich mich auf einen freien Platz und atmete tief durch.

Der Vorlesungstag war anstrengend gewesen, ich war froh, dass er endlich vorbei war. Auf dem Heimweg war ich schon wieder total in Gedanken versunken. Wir mussten dieses Semester so wahnsinnig viele Projekte abgeben, dass ich gar nicht wusste wie ich das alles schaffen sollte. Mein Studium macht mir Spaß und ich könnte mir nix anderes vorstellen, aber es war trotzdem sehr anstrengend. Mittlerweile war ich es schon gewohnt nach einem langen Vorlesungstag nach Hause zu kommen und dort sofort weiterzulernen. Was anderes blieb mir gar nicht übrig wenn ich das Studium endlich abschließen wollte. Ich wollte mit meinem Freund wegziehen, in eine größere Stadt. Wir wollten uns ein Haus bauen, einen Hund kaufen. Eben ein ganz normales Leben führen. Aber momentan waren wir an eine winzige Drei-Zimmer-Wohnung gebunden die einfach viel zu klein für uns beide war. Obwohl wir uns des öfteren stritten wegen Kleinigkeiten, war die Beziehung so schön wie am ersten Tag. Ich liebte meinen Freund wahnsinnig und ich könnte mir keine andere Person vorstellen mit der ich gern mein Leben verbringen würde.
"He! Pass doch auf wo du hinläufst!", ein Junge, vielleicht drei oder vier Jahre jünger als ich rempelte mich an und rannte mit seinen Freunden an mir vorbei die Treppen zum Bahnhofsgebäude hinauf. Ich seufzte, diese Teenager nervten mich einfach nur noch. Ich war schon immer eine etwas durchsichtige Person gewesen, immer drauf bedacht nicht zu sehr aufzufallen. Ich zog mich gerne schön an und schminkte mich auch gerne, aber dennoch war ich kein Fan davon aufzufallen. Desto überraschter bin ich jedes mal wenn sich die Leute genau mich raussuchen um mich als Zielscheibe zu benutzen. Ich war es schon gewohnt, aber die Wut wurde immer größer und ich wünschte ich wäre selbstbewusst genug um den Leuten eine passende Antwort hinterherzuschreien. Aber das passierte nur in meiner Vorstellung. Allgemein passiert sehr viel in meiner Vorstellung. Ich baue mir oft irgendwelche Szenarien im Kopf zusammen von denen ich sowieso weiß, dass sie nie geschehen werden. Ich mache das gerne, oftmals kommen sogar richtige Geschichten dabei raus bei denen ich mir denke sie sind es sogar wert auf Papier niedergeschrieben zu werden. Allerdings habe ich das bis jetzt noch nie geschafft wo wir wieder beim Thema Studium und der Zeit wären. Es ist schon schwer sich freie Zeit zu verschaffen und dann verbringe ich sie oft damit einfach nichts zu tun weil ich fast ständig das Gefühl habe, mein Kopf würde bald explodieren. Die Zugtüren öffnen sich und setze mich auf einen freien Platz und hoffe niemand setzt sich neben mich. Sowas mag ich nicht, ich fühle mich dann auf eine komische Art und Weise in meinen Gedankengängen eingeschränkt. Meine Tagträume funktionieren nicht so gut wenn jemand neben mir sitzt. Aber ich habe Glück, heute noch.

"Na, was gibt es heute zum Essen?".
Das war mein Freund, er kommt gerade vom Arbeiten nach Hause. Ich stehe schon in der Küche und schneide einen Salat klein. Draußen sind es über 30 Grad deswegen gibt es bei uns nur Salat zum Essen, was anderes wäre einfach unzumutbar. Claudiu hilft mir beim Tisch decken und schon ist der Salat auch schon wieder aufgegessen. "Wie war dein Tag in der Uni?", frägt er mich interessiert. Ich erzähle ihm, dass es nichts Neues gibt. Anschließend berichte ich ihm von den Projekten die ich alle abgeben muss und er bietet mir seine Hilfe an falls ich sie brauche. Das ist das Gute daran dass mein Freund in derselben Branche tätig ist wie ich. Habe ich eine Frage oder brauche eine zweite Meinung kann ich mich immer auf ihn verlassen. Wir räumen gemeinsam den Tisch ab und ich räume noch schnell die Küche auf. Dann machen wir es uns auf unserem riesigen Sofa bequem und schauen noch gemeinsam einen Film an bevor ins Bett gehen. Denn am nächsten Tag beginnt der ganze Wahnsinn wieder von vorne.

Als der Wecker klingelt bin ich noch halb in meinem Traum gefangen. Ich brauche zwei Versuche bis ich es geschafft habe den Wecker abzustellen. Erschöpft lasse ich mich zurück in die Kissen fallen und schaue nach links wo mein Freund noch friedlich schläft. Ich merke es sofort, heute ist einer der Tage an denen ich am besten nicht aufstehen sollte. Ich kenne dieses Gefühl, alles was man anfasst oder anschaut geht schief. Ich ziehe mir die Decke über den Kopf und überlege ob ich es mir leisten kann einen Tag in der Uni zu fehlen. Ich seufze verärgert und werfe die Decke wieder zurück und stehe schnell auf bevor mich unsichtbare Ketten wieder zurück ins Bett ziehen. Mein Freund bewegt sich und dreht sich auf die andere Seite, ich werfe ihm einen bösen Blick zu. Voller Neid, dass er noch zwei Stunden schlafen kann. Ich schlurfe ins Badezimmer, als ich die Zahnbürste aus dem Becher nehmen will bleibe ich hängen und werfe alles runter. Mit einem lauten Scheppern fällt fast die komplette Ablage auf den Boden. Ich wusste es, heute war einer dieser Tage.
Als ich unter der Dusche stand wurde das Wasser plötzlich abwechselnd kalt und wieder heiß. Fluchend versuchte ich mich zu beeilen. Als ich mir meine gewohnte Tasse Kaffee machen wollte stellte ich resigniert fest, dass ich gestern die letzte Kaffeekapsel aufgebraucht hatte. Jetzt war es besiegelt. Der Tag war für mich gelaufen, ohne Kaffee konnte der Tag nicht gut starten. Und trotzdem schaffte ich es wieder mal spät dran zu sein. Ich schnappte mir schnell meine Tasche und verabschiedete mich wieder von meinem Freund. Ich eilte die Treppen hinunter und betete wie fast jeden Tag dass ich den Bus noch rechtzeitig erwischte. Glück gehabt! Wenigstens das. Nach ein paar Metern stellte ich mein Glück doch in Frage, denn es stellte sich heraus, dass der Busfahrer wohl nicht so begabt war einen Bus ohne ruckartige Bewegungen zu fahren. Ich war heilfroh als ich endlich am Bahnhof stand und auf den Zug wartete. Während ich wartete checkte ich wieder meine Mails, diesmal aber mit dem Smartphone, für den PC hatte es vorhin leider nicht mehr gereicht. Hinter mir standen wieder ein paar Teenager-Jungs und erzählten sich irgendwelche Geschichten wie toll sie doch seien. Ich seufzte und verdrehte die Augen, und das am frühen Morgen! Aus irgendeinem Grund begannen sich die Jungs hinter mit zu streiten, ich hatte nicht zugehört und wusste nicht was passiert war. Ich blickte mich kurz um und sah dass sich zwei der Jungs gegenüberstanden und sich gegenseitig Beleidigungen an den Kopf warfen. Einer von ihnen begann den anderen zu schupsen. Na super, das hat mir gerade noch gefehlt. Ich wartete ungeduldig auf den Zug. Ich trat ein Stück näher ans Gleis um sehen zu können ob der Zug schon kam. Und tatsächlich, ich konnte ihn aus einiger Entfernung erkennen. Das wurde aber auch langsam Zeit, die Auseinandersetzung hinter mir wurde immer schlimmer und ich konnte es kaum abwarten endlich im Zug zu sitzen, am besten soweit weg wie möglich von diesen Jungs. Das Geschreie wurde immer lauter und agressiver. Wieso sagt denn kein anderer was und ging dazwischen? Egal, der Zug war schon so nah, dass ein Ende in Sicht war. Plötzlich rempelte mich einer von den Jungs so heftig an dass ich die Augen aufriss und einen überraschten Schrei ausstieß. Die Jungs schauten mich mit weit aufgerissenen Augen und ausgestreckten Armen an. Ich versuchte ihre Hände zu ergreifen, aber ich spürte wie ich das Gleichgewicht verlor. Alles bewegte sich in Zeitlupe, ich spürte wie meine Füße den Rand des Gleises hinabglitten. Voller Entsetzen blickte ich nach rechts und sah den Zug. So nah. So nah, dass ich wusste es gab keinen Ausweg mehr. Die leuchtenden Scheinwerfer kamen immer näher. Der Zug hatte die Notbremsung eingeleitet und er hupte. Aber es war zu spät. Alles wurde dunkel um mich herum.

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