Rhaya rieb sich verschlafen die Augen und setzte sich auf. Seit sie in die Dienste des Königs getreten war, hatte sie kaum mehr ausschlafen können. Und so war es auch heute. Einer von der Königsgarde kam in ihr Zimmer gestürmt und hat die Tür so heftig an die Wand geworfen, dass sie aus den Angeln geflogen ist. Die Wache hatte Rhaya angeschrien, sie solle aufstehen und die Tür einfach auf dem Boden liegen lassen.
Rhaya sah wie in Trance auf die Tür und stand langsam auf. Sie wusch sich und zog sich an. Danach versuchte sie die Tür wieder aufzustellen. Sie schaffte es sogar und lehnte die Tür an die Wand neben dem Durchgang. Wie so oft, hatte sie keine Ahnung, was heute auf sie zu kam und so blieb dem Tag doch etwas spannendes.
Sie ging in die Küche und nahm sich Käse und ein Stück Brot. Auf dem Weg zu König Joffreys Gemächern, um die Nachtwache abzulösen, aß sie hastig ihr Brot auf. Sie wollte sich die Peinlichkeit von letzter Woche ersparen. Da war sie noch mitten am Essen gewesen, als Joffrey aus seinen Gemächern trat. Er hatte sie angeschrien und ihr gesagt, wenn sie das noch einmal mache, würde sie als Küchenhilfe eingestellt werden. Immerhin wollte er meinen Kopf nicht auf einen Spieß stecken, dachte sie belustigt.Am Zimmer des Königs angekommen, traf sie auf eine verschlafene Wache, die sich sofort gerade hinstellte, als sie Rhaya sah.
Die Wache wollte gerade gehen, da Rhaya sie ablösen sollte, als eine weitere Wache hinzu kam. Der Wachmann sah sie mit scharfem Blick an und wies ihr an, ihm zu folgen. Hoffentlich will die Königin Mutter nicht wieder etwas von mir, dachte sich Rhaya, während sie hinter der Wache herlief. Sie musste sich bemühen Schritt zu halten, da der Wachmann es anscheinend sehr eilig hatte. "Wo gehen wir denn hin und wer will mich sehen", fragte Rhaya die Wache. Doch anstatt zu antworten grunzte sie nur und ging noch schneller in Richtung des Aussichtspunktes auf den Hafen. Noch bevor sie dort angelangten sah Rhaya von weitem einen wohlgenährten Mann an der Mauer lehnen. Sie sah seinen kahlen Hinterkopf, doch er drehte sich um, sobald die Wache mit Rhaya vor ihm stand. "Ihr könnt jetzt gehen", sagte er an die Wache gewandt, die sich auch sogleich aus dem Staub machte."Ihr seid die Spinne", sagte Cleganes Tochter, "ich habe schon viel von euch gehört."
"Nur gutes, will ich hoffen. Aber bei jemandem wie mir wird das wohl kaum der Fall sein. Aber setzt Euch doch erst einmal." Varys wies mit seinem Finger auf eine nahegelegende Steinbank und Rhaya setzte sich. Er jedoch blieb stehen und beobachtete sie. "Es wäre freundlicher von Euch, mich Lord Varys zu nennen", fing er erneut an. "Obwohl ich schon vieles gewohnt bin. Eunuch, werde ich genannt oder auch die Spinne. Was soll man auch sonst sagen? Ein Mann von Bedeutung, egal wie groß er auch sein mag, hat immer andere Namen, als seinen eigenen. Denkt doch nur einmal an den Königsmörder. Man kennt die Menschen nur durch die Taten und Namen, die ihnen gegeben werden. Es ist eigenartig und doch ist es wahr." Lord Varys konnte keinen Moment still stehen und ging vor ihr auf und ab.Rhaya wusste nicht, worauf er hinaus wollte und stand auf, um ihm von der Bank aus nicht andauernd hinterher gucken zu müssen. "Was wollt Ihr mir sagen?", wollte sie von dem Eunuchen wissen. "Meine Vögel haben mir gezwitschert, was mit Euch geschehen ist Rhaya. Es ist eine kleine Tragödie, die so nicht passieren sollte."
"Ihr habt mich beobachten lassen?"
"Ich beobachte jeden. Doch vor allem Leute mit interessanten Lebensgeschichten. Von dem Vater verlassen. Von der Mutter ausgesetzt. Ich empfand es für richtig, für Eure Sicherheit zu sorgen. Nur habe ich dabei nicht bedacht, wie einige Menschen diese Worte verstehen."
"Wie denn auch, das könnt Ihr ja auch nicht mehr. Ihr habt mich beobachten lassen und dann nichts unternommen, als ich Hilfe brauchte. Warum?" Rhaya war wütend. Wie konnte dieser fette Mann alles wissen und sie dann diesem dreckigen Kerl ausliefern.Varys blieb ruhig und erklärte: "Meine Vögel sind überall, nur nicht zu jeder Zeit. Alle Vögel müssen schlafen. Es konnte keine Hilfe kommen."
"Wie lange? Wie lange wisst Ihr schon von meiner Geburt?"
"Eine ganze Weile. Seit Ihr ausgesetzt wurdet. Ihr habt Euren Vater getötet. Warum?"
"Wenn er noch gewesen wäre, würde ich meine Jungfräulichkeit noch besitzen. Ich dachte ich hasste ihn. Wollte ihm ihn die Augen sehen, ihm das Schwert in die Brust stechen, wenn er mich erkennt. Er war stärker als ich. Hab ich auch nicht anders erwartet.""Ihr bereut es, nicht wahr. Ihr wünschtet, er würde noch leben. Er hat sich für Euch geopfert, das wisst Ihr sicherlich selber." Rhaya war wütend auf sich selbst. Varys hatte recht. Sie spürte tatsächlich so etwas, wie Reue. Doch dann dachte sie wieder daran, was Zergen mit ihr getan hatte und die Reue verschwand. Wenn auch nur vorerst.
Ohne darauf zu achten, dass sie gegangen waren, stellte Rhaya fest, dass sie sich auf dem Weg zu ihrem Zimmer befanden. Sie hatten es nicht eilig. Es war erschreckend, wie schnell die Zeit verging.
"Mich interessieren Eure Vögel Lord Varys. Und Eure Geschichten. Eure Denkweise ist beeindruckend. Zumindest sehe ich das so. Ich würde gerne mehr erfahren, über einige Dinge."
"Dann lest Bücher. Wissen erlangt man durch Bücher."
Vor Rhayas Zimmer mit der kaputten Tür hielten sie an. "Ich kann aber nicht lesen."
"Ihr könnt Euch heute frei nehmen. Ich sorge dafür, dass Ihr nicht zum König gehen müsst. Ich kenne jemanden, der Euch das lesen beibringen kann. Am Nachmittag werdet Ihr es anfangen, wenn Ihr wollt. Wenn nicht, dann erscheint auch nicht. Lord Tyrion ist der Meinung, Ihr solltet es lernen."
Mit diesen Worten drehte er sich um und ging. Dieser Mann war seltsam. Rhaya war fasziniert von ihm, auf eine eigene Art und Weise, aber seltsam blieb er, mit seinen Vögeln. Er wusste vieles. Er war schlau, wie Lord Tyrion. Die beiden müssten sich verstehen, dachte Rhaya, haben wohl nur nicht so viel mit einander zu tun.
