6. Rauchgebilde (Teil 2)

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Es regnete schon wieder. Mein Kleid klebte an meinem Körper. Es war beige. Ich erinnere mich noch, dass es langsam anfing durchsichtig zu werden.
Die Wiese hinter seinem Haus leuchtete grün. Der Himmel strahlte in einem tiefen blau. Ich betrachtete meine nackten Zehen. Grashalme klebten zwischen ihnen, kleine Erdklumpen zerflossen auf meiner Haut. Der Regen prasselte erbarmungslos. Ich liebte es. In diesem Moment, hatte ich das Gefühl unter Drogen zu stehen. Dunkelrotes Blut schoss durch meinen Körper. Aus meiner Brust brach dieses Gefühl aus. Dieses Gefühl, das einem vorgaukelt unbesiegbar zu sein. Adrenalin sprudelte in mir, wie kochendes Wasser. Ich schrie so laut ich konnte. Augen richteten sich auf mich. Gierige Blicke, die das, was unter meinem Kleid sichtbar wurde, aufzufressen versuchten. Argwöhnische, fast ängstliche Blicke. Wie erbärmlich doch alles war. In meiner Brust blieb bloß ein hohles Sirren das, ab und zu, einen Ausgang aus diesem bitteren Sumpf zu finden versuchte. Mein Schrei erstarb. Mit aufgerissenen Augen starrte ich die Menschen um mich herum an. Wie lange ich das tat, habe ich vergessen.
Und dann saß ich im Gras und lachte. Ohne jegliches Gefühl. Die Blicke hatten sich zurückgezogen, der Zucker war geschmolzen. Das Gras und ich und alles andere. Wir alle warteten darauf das er kam. Und er tat es. Vielleicht hatte er das Loch bemerkt, das im Garten aufgebrochen war. Vielleicht kam er um es wieder zu  verschließen. Nur das er genau das Gegenteil tat. Er riss es weiter auf, kratzte und schnitt, bis es unmöglich war, es je wieder zu stopfen.
"Ich kann dich sehen."
Er sagte dies nachdenklich, mit zusammengezogener Stirn. Klippen taten sich auf, Klippen, deren Abgründe so tief waren, das man einen Stein hinunter werfen konnte, ohne je den Aufprall zu hören. Dann setzte er sich ins Gras. So nah, das ich seine Wärme durch meine und seine Kleidung spüren konnte. Das Atmen viel mir schwer. Ohne etwas zu sagen zog er eine Weinfasche aus seinem Jacket. Sie war schon angebrochen. Er gab sie mir. Ich versuchte durch den Flaschenhals ins Innere zu schauen. Es gelang mir nicht, es war zu dunkel. In das Innere von etwas zu schauen, ist sehr schwer, dachte ich. Dann trank ich. Ein kleines Rinnsal tiefroter Flüssigkeit rann mein Kinn hinab und tropfte auf das Kleid. Dort verschwomm es langsam. Es erinnerte mich an den Rauch einer Zigarette.
Meine leicht offenen, verfärbten Lippen flüsterten nach einer Zigarette. Sie bekamen sie. Er bekam den Wein. Er nahm tiefe Schlucke. Beim zuschauen hatte ich das Gefühl, dass er sich selber in die Flasche hineintrinken wollte. Zu diesem Zeitpunkt verstand ich noch nicht wieso. Noch flog ich.
"Möchtest du das ich dir etwas vorspiele?"
"Du spielst schon."
"Aber nicht mit dir."
"Das kannst nur du wissen, denke ich. Aber das habe ich nicht gemeint."
Ich nahm ihm den Wein aus den Händen und trank ihn aus.
"Glaubst du, dass man das Innere eines Menschens spüren kann?"
"Vielleicht kann man es spüren. Aber verstehen wird man es niemals. Ich möchte versuchen etwas vo meinem Innern mit dir zu teilen."
Als er dies sagte, liefen Tränen meine Wangen hinunter. Das er sie nicht sah, war die Schuld des Regens. Ich nickte nur.
Er nahm mich auf seinen Arm, trug mich über die Wiese, hinaus auf die weiten Felder. Die Augen geschlossen gab ich mich ihm hin. Überließ meine ganze Existenz einem Menschen, den ich liebte. Ich zerfloss auf ihm, um mich in ihn zu verwandeln. Und dann fing er an zu spielen. Er war kein Geiger. Er spielte Cello. Erst kamen die Töne wie der nachlassende Regen aus ihm heraus. Dann verwandelten sie sich in den Wind, in die Wiesen. In ihn. Er wurde zur Musik. Und ich mit ihm. Ich wurde in Abenteuer gestürzt. Ertrank im Meer. Wurde mit tausend Pfeilen durchbohrt, die ich selber abgeschossen hatte. Und ich weinte. Und weinte. Und weinte.
Zu diesem Zeitpunkt befand ich mich schon im Sturzflug. Der Wind zerfetzte mein Gesicht, riss meinen Leib auseinander. Aber ich spürte nichts.
Der Aufprall war das schlimmste.
Als er aufhörte, weilte ich nicht mehr in meinem Körper. Ich konnte nicht sagen wer zu wem gehörte, es gab nur noch ein Wir. Es zitterte. Und dann zerbrach es. Warf uns in die alten Hüllen zurück, die sich für immer verschlossen.
"Ich sterbe."
"Warum?"
"Ist das wichtig?"
"Aber du lebst."
"Ja."
"Du kannst schön spielen."
"Ich habe mit dir gespielt."
Ich versank in dem Loch. Er hatte zu sehr daran gerissen. Es zog mich hinunter ins stumme gleichgültige Nichts. Ich versuchte zu schreien. Dann lachte ich. Diesmal lachte ich tausende Tonnen Gefühl aus mir heraus. Spuckte und würgte daran. Aber ich konnte nicht aufhören.
"Ich hasse dich."
Und so verschwand ich. Er sah noch, wie ich mich auf den Wiesen, zwischen den Feldern auflöste.

Alle denken, niemand weissWo Geschichten leben. Entdecke jetzt