Kapitel 9

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Arschloch.

Meine Nase blutet immer noch und meine Hände sehen aus, als hätte ich in meine eigene Scheiße gegriffen. Ich versuche die Blutverkrustungen vergeblich abzukratzen und muss dabei an einen alten Mitschüler denken, dem bei diesem Anblick wohl der Magen knurren würde. Ich glaube, Jonathan hieß der. Blutkruste war sein Frühstück-Snack. Bei der Erinnerung wird mir übel und ich stecke genervt meine Hände in die Jackentaschen. Das immer noch laufende Blut rinnt über meine Lippen und ich spucke die eisenhaltige Flüssigkeit angewidert auf den Boden.

Als ich wieder vor unserem Haus stehe knurre ich gereizt in mich hinein.

Ich hasse diese ganze abgefuckte Scheiße und diese beschissenen Wichser, die hier wohnen.

Geladen suche ich nach etwas, an dem ich meine Wut ausleben kann. Ich brülle ungeduldig und sehe dann einige Meter von mir entfernt eine leere Getränkedose und renne auf sie zu. Ich trete mehrmals drauf und Kicke sie mit einem lauten "Fick dich!" davon.

Mein Atem ist schwer und ich greife nach meinem Zigarettenpäckchen und dem Feuerzeug. Der erste Zug ist lange, gierig und erregt. Meine verdreckten Finger zittern um dem kleinen weiß braunen Stängel. Ich will die Luft anhalten, den Rauch nicht davon lassen, ich will mehr. Wie ich sie liebe. Diese Droge, diese Sucht, sie ist mein.

Ich laufe wieder zurück vor die Haustür und setze mich auf die Stufe. Mein Nasenbluten hat bereits aufgehört und ich beobachte die leere Gegend, höre nur irgendwo her lachende männliche Stimmen. Abgekämpft lege ich die Kapuze über den Kopf und lehne meinen Kopf an die Wand neben mir. Zug für Zug streicht vorbei und ich schließe meine Augen.

Das wird wohl nicht das letzte Mal gewesen sein. Ich werde diesem Tom noch oft begegnen müssen. Aber sicher ist, dass ihm dieser Schlag nicht erspart bleibt. Wofür hält er sich? Für etwas Besseres? Ich schnaube verächtlich auf, als mir wieder seine silbernen Ringe um der Unterlippe einfallen und schüttle mit dem Kopf, während ich mit leichtem Klopfen auf die Zigarette die Asche auf dem Boden anhäufe.

Eine schwarze Karre fährt an den Bürgersteig und stillt den Motor. Ich senke ungerührt den Kopf und hoffe von dem Fahrer keine Achtung zu bekommen, so schrecklich ich auch gerade aussehen mag.

"Bill?"

Meine Augen weiten sich für einen Augenblick und sofort würde ich mich irgendwo wie ein hysterischer Maulwurf unter der Erde vergraben. Oder sterben. Sterben ist gut.

Nein, nein, nein.

"Bill! Ist alles in Ordnung?"

Ich kneife die Augen zu und versuche ihn zu ignorieren. Vielleicht denkt er ja dann, dass er mich mit jemandem verwechselt hat.

"Hey." Vorsichtig zieht er meine Kapuze vom Kopf und kniet sich neben mich. Ich gebe die Hoffnung der Situation entkommen zu können auf und hebe den Kopf, schaue ihn aber nicht direkt an.

"Nichts.", murmle ich und nehme einen Zug. Sofort schlägt er mir den Glimmstängel aus der Hand und ich brumme genervt.

Bitte, verpiss dich, ich flehe dich an.

Es ist Elias. Der Bruder meiner Mutter. Bedrückt schaut er mich an und legt eine Hand auf meine Schulter. Er trägt wieder seine sorgfältig abgestimmte braune Hose zu dem zarten rosa Hemd. Ich weiß nicht, ob ich heulen soll. Noch schwuler kann man sich nicht geben. Nicht mal Leo zieht sich so an, obwohl er einen wirklich schwulen Charakter hat.

"Weiß deine Mutter, dass du hier bist?", fragt er und wartet geduldig auf meine Antwort.

Wenn ich Ja sage, rastet er aus und fährt meine Mutter wieder damit an, dass sie sich nicht um mich kümmern könne. Wenn ich allerdings Nein sage, wird er auch ausrasten und meine Mutter ebenfalls damit anfahren, dass sie sich nicht um mich kümmern könne. Ich entscheide mich für's sture Schweigen, und er greift mir unter die Schultern.

Hey. Hallo? Geht's noch?

Entrüstet ziehe ich meinen Körper von ihm weg, stehe jedoch trotzdem mit ihm auf und schaue ihn an. Sein Bart ist gepflegt rasiert und mir fällt ein, dass ich mich auch mal frisch ans Werk machen müsste. Und zum Friseur sollte ich auch mal.

Ich sehe Mila vertieft in ihr Handy die Straße entlang laufen und mich überkommt ein Gefühl der Erleichterung.

"Mila!", rufe ich um dem Dreck in den ich rein getreten war zu entfliehen. Ich ignoriere Elias und laufe auf sie zu. Zuerst hebt sie den Kopf und schaut fragend umher, als sie mich aber erblickt, lächelt sie. Sofort aber betrachtet sie mich genauer und sieht mich entsetzt an. Trotzdem lächle ich ihr wie ein Kranker zu und lege die Hand um ihre Schulter Schulter.

"Wow, okay. Was geht bei dir ab? Wurdest du verhauen?", fragt sie verwirrt und verzieht einwenug das Gesicht. Die Antwort wird dank Elias weggeschnitten.

"Nein, Bill! Du kommst zuerst mit nach Hause. So kannst du nicht rumlaufen.", sagt er streng und ich blicke zur Seite.

Du gehst mir prächtig auf die Eier, Spast.

Bevor er noch saurer wird, seufze ich und murmle Mila kurz zu, dass sie auf mich warten solle. Elias klingelt an der Tür und ich streiche mit dem Handrücken das letzte Stück angetrocknete Blut weg.

"Was ist überhaupt passiert? Wurdest du verprügelt, oder was?", fragt er, um die Stille vor der immer noch stummen Haustür zu brechen. Ich überlege kurz, ob ich ihm die Wahrheit sagen sollte, aber werde dann Gott sei Dank von dem funktionsuntüchtigen Summen des Einganges unterbrochen.

Als wir den Flur betreten und dann meine Mutter die Wohnungstür öffnet und hinter der Wand hervorspäht, spürt man sofort die Spannung zwischen den beiden Geschwistern.

Es ist totenstille, obwohl wir weiter laufen. Und als meine Mutter mich neben Elias sieht, schluckt sie schon mutlos. Ihr Blick wandert beklommen zu Elias und sie beginnt nervös mit den Fingern an ihrer Unterlippe herumzudrücken.

Ja, ich bin ehrlich. Sie tut mir leid.

"Erklär' mir das, Simone.", sagt er stumpf und drückt mich vorsichtig durch die Tür, bleibt selbst aber vor der Tür stehen. Meine Mutter schweigt und tritt ihm aus dem Weg, um ihn hineinzulassen.

Eigentlich wollte ich weitergehen. Mich hat die ganze Geschichte nichts anzugehen. Aber diesmal schon.

"Der Junge sitzt bei der Kälte völlig verblutet vor der Haustür. Sag mir, was du dir dabei denkst.", haut er wieder drauf. Der Kopf meiner Mutter senkt sich immer weiter und ihrer Haut scheint jegliche Farbe zu verschwinden.

"Er hat doch eine Jacke an.", brummt sie kurz und schaut nochmal über meinen Körper um sicher zu gehen, dass sie Recht hatte. Ja, sie hatte Recht, aber sie weiß, dass ihre Worte dumm waren.

Elias regt sich nicht. Gar nicht. Nur seine Wimpern schlagen, und selbst das versucht er zu vermeiden. Sein Blick bohrt sich durch die geschwächte Figur meiner Mutter und als wäre es nicht schon still genug, wird diese Stille immer tiefer und voluminöser.

Verdammt gruselig.

Ich weiß, dass meine Mutter mit der ganzen Sache nichts zu tun hat, aber ich kann meinen Skrupel nicht überwinden und schaue wortlos zu. Eine Träne blitzt auf den Fliesenboden und funkelt dort hell. Ihre Haare fallen ihr immer mehr ins Gesicht und irgendwann schluchzt sie laut auf. Ihr Körper schreckt hoch und das ist das einzige, das die Ruhe in dem Moment bricht.

Ich will dieses eine Wort meines Schuldbewusstseins aussprechen, aber bin zu feige dafür. Stattdessen drehe ich mich um, gehe wieder aus der Tür, lasse meine Mutter in der Situation alleine und höre als letztes noch, wie sie endgültig aufheult.

Nerv' nich' || #Wattys2015Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt