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111 Tage kommt sie nun in meinen Laden und ich habe sie nie nach ihrem Namen gefragt.

Habe ihr nie gesagt, wie schön ihr Lächeln aussieht.

Habe sie nie gefragt, wieso sie so spät nachts auf der Hauptstraße unterwegs ist.

Habe sie nie davor gewarnt, wie gefährlich es dort draußen ist.

Habe sie nie gefragt, wieso sie nur die Kirsche des Cupcakes isst und den Rest, den verführerischen, himmlischen Teig übrig lässt.

Wer isst nur die Kirsche eines Cupcakes? Wer bezahlt drei Euro für einen Minikuchen, den man nicht isst? Und wieso mag sie diese Pappbecher lieber als meine bunten Becher, die in allen Farben in dem Regal hinter der Theke stehen? (Geschenke meiner Schwester, als ich den Laden eröffnete.)

»Ist Ihnen aufgefallen, dass die Geschäfte auf der anderen Straßenseite alle unmögliche Öffnungszeiten haben?«

Sie spricht.

Mit mir.

Wieso?

Sie schaut weiter aus dem Fenster, hinüber zu dem spanischen Restaurant und dem Kiosk, der wie jeden Abend seine Türen um Mitternacht geschlossen hat. Ich bin das einzige Geschäft weit und breit, das niemals geschlossen hat.

»Wohin sollen denn alle Nachtschwärmer, wenn niemand geöffnet hat?«

»Zum Restaurant mit der goldenen Möwe, vielleicht«, erwidere ich und mein Herz pocht.

Ich spreche mit ihr. Und sie lacht.

»Aber Sie haben viel besseren Kaffee«, sagt sie und trinkt zum Beweis einen weiteren Schluck.

Ich wollte noch nie so sehr ein hässlicher, umweltverschmutzender Pappbecher sein wie in diesem Moment.

Everyday at 9PMWo Geschichten leben. Entdecke jetzt