#12

25.9K 2.4K 98
                                    

Meine Schwester ist nur zwei Jahre jünger als ich, aber sie reiste bereits durch ganz Europa. Sie bestieg den Eiffelturm, sah sich den Big Ben an, plantschte an der Nordsee im Meer. Sie fuhr zur Vatikanstadt, besuchte Stonehenge, den Winterpalast in Russland.

Ich kam nie aus der Stadt raus. Dafür erlebte ich die Welt immer durch ihre Augen. Durch ihre Erzählungen. Durch ihre Worte.

So ähnlich geht es mir jetzt mit Skye, wenn sie mir von der Fachhochschule erzählt, die sie besucht, um Pädagogin zu werden. Bei jeder Wiedergabe ihrer Vorträge, bei jedem Glitzern in ihren Augen, bei jeder Geschichte über ihre Kommilitonen lerne ich sie besser kennen.

Meine Geschichten wirken dagegen langweilig, stupide, gewöhnlich. Doch sie hört mir zu. Lauscht, stellt Fragen zu meiner Ausbildung, zu den Jobs, wie ich das Gebäude fand.

»Weißt du, manchmal will ich einfach weg hier.«

Es ist schon weit nach vier Uhr am Morgen - so lange war Skye noch nie hier. Als sie vorhin kam, schickte ich meine Schwester fort. Sie grinste nur.

»Weg?«

Skye nickt und sie hat ein Funkeln im Gesicht, das mir neu ist.

Da ist er. Der Duft, den ich nicht einordnen konnte.

Freiheit. Skye riecht nach Freiheit.

»Ich könnte in die City ziehen. Den Tod von ... Ich könnte damit abschließen.«

Wir hatten noch nie über den Todesfall gesprochen, der sie von mir ferngehalten hatte. Ich verstehe nicht, wieso sie es jetzt anspricht. Wieso sie mit mir darüber redet. Wieso sie mir sagt, dass sie fort will.

Fort.

Von mir.


Everyday at 9PMWo Geschichten leben. Entdecke jetzt