TEIL EINS
DAEDALUS UND IKARUS
________________________________________Eine Geschichte aus Ovids Metamorphosen heißt Daedalus und Ikarus. Sie handelt davon, wie Daedalus, der sich, gemeinsam mit seinem Sohn Ikarus, auf Kreta im Exil befindet, Flügel baut, um von der Insel fliehen zu können. Ikarus soll die Flügel testen, als sie fertig konstruiert sind. Sein Vater erklärt ihm, dass er nicht zu weit unten fliegen darf, weil er sonst von einer Welle getroffen werden könnte. Außerdem darf er nicht zu weit oben fliegen, weil die Wärme der Sonne das Wachs, das die Flügel befestigt, zum schmelzen bringen könnte. Er soll einen mittleren Weg finden.
Doch der übermütige kleine Junge hört nicht auf seinen Vater und fliegt zu hoch. Wie Daedalus bereits geahnt hat, schmilzt das Wachs und Ikarus' Flügel lösen sich. Ikarus stürzt ins Meer und sein Vater muss zusehen, wie sein einziges Kind hilflos ertrinkt.An diese Geschichte habe ich in letzter Zeit oft gedacht. Was für ein Zufall, dass genau diese Geschichte nun ein wesentlicher Bestandteil meiner Abschlussprüfung im Fach Latein ist.
Ich sitze mit den anderen 17 Schülerinnen meines Lateinkurses in einem kleinen Raum, der aussieht, wie alle anderen hier auch: weiße Wände, dunkler Laminatboden und große Fenster, die einen atemberaubenden Blick auf die Skyline East Citys freigegeben. Außerdem befinden sich neun lange Tische im Zimmer; jeweils zwei Schülerinnen sitzen an einem davon.
«Noch zwanzig Minuten«, sagt unsere Lehrerin Mrs Green.
Ich atme tief durch. Obwohl Latein eines meiner besten Fächer ist, kann ich mich heute kaum auf die Übersetzung und die zusätzlichen Fragen konzentrieren. Obwohl über die Hälfte der Zeit, die wir zum Bearbeiten haben, schon vorbei ist, habe ich noch nicht einmal ein Drittel der Übersetzung geschafft und mit den Zusatzaufgaben sieht es ähnlich schlecht aus. Ob das an der Geschichte von Daedalus und Ikarus liegt? Manchmal wünsche ich mir, ich könnte so sein wie Ikarus. Ich könnte einfach davon fliegen. Weg aus dieser Stadt, hinüber auf die andere Seite des ehemaligen New Yorks. Der Überwachung und Kontrolle entkommen. Aber ich denke nicht, dass mir das jemals gelingen wird.Meine Lateinprüfung ist viel schlechter gelaufen, als ich eigentlich erwartet habe. Im Gegensatz zu meinen Mitschülerinnen habe ich meinen Bogen beinahe leer abgegeben. Aber wofür brauche ich schon gute Noten? Ich bin die Tochter von Graham Murphy, die Enkelin von Pascal Murphy, dem Gründer unserer Stadt. Meine Zukunft ist festgelegt: ich werde meinen Verlobten Colin Times heiraten, mein Vater wird zurücktreten und gemeinsam mit Colin werde ich über die East City herrschen. Wen interessiert dann schon, ob ich meinen Schulabschluss bestanden habe?
Ich gehe langsam über die Treppe nach unten. Einige jüngere Schülerinnen strömen an mir vorbei, rempeln mich an.
Was mich erwartet, wenn ich heute nach Hause komme, steht seit Monaten fest: Colin wird mich abholen, gemeinsam werden wir in seinem anthrazitfarbenen BMW zu mir nach Hause fahren und nach dem Mittagessen wird eine Kleideranprobe stattfinden, da morgen der 45. Tag der Trennung ist, ein großes Jubiläum.
Ich bin unten angekommen und verlasse mit langsamen Schritten das Schulgebäude. Ich hätte natürlich auch den Fahrstuhl benutzen können, aber ich will heute so viel Zeit wie möglich vertrödeln.
Schon von Weitem kann ich ihn sehen: Colin, der mit verschränkten Armen an einer Linde lehnt, beobachtet die vielen Schülerinnen, die das Gebäude verlassen.
Die Schulen bei uns sind nach dem Geschlecht geordnet. Die jeweiligen Jahrgangsstufen nach dem Geburtsjahr. Da Colin ein Jahr älter ist, als ich, hat er bereits vergangenes Jahr seinen Abschluss gemacht und mit einem Durchschnitt von 1,0 bravourös bestanden. Davon kann ich wahrscheinlich nur träumen.
Als er mich in der Menge erkennt, verschwindet sein gelangweilter Gesichtsausdruck und macht einem breiten Grinsen Platz.
Ich gehe auf ihn zu und kann die sehnsüchtigen Blicke anderer Mädchen sehen, deren Partner nicht mit Colin mithalten können. Welcher Junge kann das schon? Colin sieht gut aus, seine dunkelblonden Haare erinnern an die Farbe von Honig und seine tiefblauen Augen strahlen so viel Wärme und Vertrauen aus, dass man in keine anderen Augen mehr schauen will, wenn man seine ein erstes Mal gesehen hat. Er ist 1,80 Meter groß, eine perfekte Größe für den Mann einer nur 1,60 Meter großer Frau, schlank und gut trainiert.
«Na du?», begrüßt er mich und küsst mich kurz auf den Mund. Ich kann förmlich spüren, wie sich die neidischen Blicke der anderen in meinen Rücken bohren.
«Wie war Latein?», fragt er.
«Ganz gut», lüge ich und lächle, während ich die anderen Mädchen um uns herum ausblende. «Wollen wir?»
Colin nickt und nimmt meine Hand. «Mein Auto steht ein Stück die Straße runter.»
«Okay, danke für's abholen.» Manchmal fühle ich mich ihm gegenüber doch noch irgendwie etwas distanziert, weswegen ich immer bemüht bin, höflich zu bleiben.
«Gerne doch.» Er grinst, zeigt seine Grübchen und wir gehen los.
Unsere Beziehung und bald auch Ehe basiert natürlich nicht darauf, dass wir uns lieben. Hier wird nichts dem Zufall überlassen, sogar unsere Ehepartner werden bestimmt. Die Eltern der beiden Kinder sind meist schon vorher befreundet und wenn ihre Sprösslinge alt genug sind, werden sie damit konfrontiert, dass sie in unmittelbarer Zeit einander lieben und treu bleiben sollen, bis dass der Tod sie scheidet.
Da mein Vater der Sohn von Pascal Murphy ist und ich dessen einziges Enkelkind, bin ich vermutlich das begehrteste Mädchen im heiratsfähigen Alter, dass es in ganz East City gibt.
Eigentlich sollte ich glücklich mit Colin sein, er ist einfach ein Traummann, aber ich bin nicht glücklich mit meinem Leben. Die Überwachung rund um die Uhr, die Kontrolle durch meine Eltern. Das alles ist nicht das Leben, dass ich führen will. Ich will ausbrechen. Ich will Ikarus sein.
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Science Fiction«Artikel der New York Times vom 09.06.2025: Nun ist es offiziell - New York wird in zwei Teile geteilt, wie damals zu DDR Zeiten Berlin in Deutschland.» New York City existiert nicht mehr. Stattdessen sind zwei getrennte Städte entstanden, die unte...