Kapitel Vier

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Die Zukunft gehört denen, die an die Wahrhaftigkeit ihrer Träume glauben.
Eleanor Roosevelt

Ich träume. Ich weiß es ganz sicher. Wenn das die Realität sein sollte, dann ist aber gehörig etwas schiefgelaufen.
Die ganze Familie ist in der Saint Patrick's Cathedral der East City versammelt. Colin und ich stehen vorne am Altar und sind kurz davor uns das Jawort zu geben. Er trägt einen schlichten schwarzen Anzug mit einer dunkelblauen Krawatte. Ich ein strahlend weißes Kleid, das mit Spitze verziert ist. An meinem Hinterkopf ist eine Schleppe befestigt, die mit Sicherheit länger als zehn Meter ist.
Unser Priester, ein Mann mittleren Alters mit schütterem Haar, redet ununterbrochen. Ich passe kaum auf, was er sagt.
Colin strahlt übers ganze Gesicht. Er wirkt so glücklich hier neben mir, dass mir beinahe die Tränen kommen.
Da nimmt Colin plötzlich meine linke Hand und schiebt einen zarten goldenen Ring mit einem Diamanten oben drauf über meinen Ringfinger.
Ich bin dran. Sein Ehering ist meinem relativ ähnlich, jedoch wirkt seiner wesentlich maskuliner, da er breiter ist, als meiner. Aber einen Diamanten besitzt seiner ebenfalls.
«Sie dürfen die Braut jetzt küssen.» Das ist der erste Satz aus dem Mund des Priesters, den ich wirklich wahrnehme.
Colins Lippen berühren meine ganz sanft und die anwesenden Familienangehörigen applaudierten uns, während wir Arm in Arm die Kirche verlassen.

Schwer atmend wache ich auf. Mein Oberteil ist völlig durchnässt von meinem Schweiß. Die viel zu schnellen Schläge meines Herzens verlangsamen sich langsam wieder. Zum Glück war das nur ein Traum! Ich will Colin nicht heiraten. Nicht weil es an ihm liegt. Es liegt an der Situation im Gesamten betrachtet. Ich will kein Leben, wo ich immer überwacht werde. Ich will kein Leben, in dem jeder Schritt schon feststeht, bevor ich auch nur darüber nachgedacht habe, diesen Schritt zu wagen. Ich will wie Ikarus sein.
Mein Atem normalisiert sich wieder und ich schlage die Decke zurück, um aufzustehen und mich umzuziehen. Blind greife ich in meine Kommode, ziehe ein Top heraus und streife es mir über, nachdem ich das Verschwitzte auf den Boden geworfen habe. Anschließend gehe ich zum Fenster, das mir einen Blick auf die Stadt zeigt. Die vielen kleinen Lichter, die in der Ferne brennen, wirken wie Puzzleteile, die alle gemeinsam die nächtliche Atmosphäre East Citys bilden. Ganz schwach kann man am Horizont die Mauer erkennen, die die Grenze zwischen East und West City bildet. Was würde ich dafür geben, einmal in meinem Leben auf die andere Seite der Stadt zu gelangen? Wenn ich wie Ikarus davonfliegen könnte, aber ohne abzustürzen. Ich will kein Leben hier führen, wo ich immer überwacht werde. Ich will weg!
Eventuell könnte sich morgen die Gelegenheit ergeben, denke ich, während sich in meinem Kopf kleine Zahnräder zu drehen scheinen. Wenn alle zu fixiert darauf sind, zu feiern, Paraden anzusehen und die Zeit mit der Familie zu verbringen.
Ja, das ist es! Versuchen kann ich es ja mal, oder etwa nicht? Natürlich wird es riskant, natürlich kann vieles schief gehen, aber immerhin habe ich dann gehandelt. Immerhin habe ich etwas getan. Ich werde etwas ändern.

Am nächsten Morgen wache ich auf mit dem Gedanken im Kopf, dass ich heute Abend vielleicht schon in West City bin. Vorfreude macht sich in mir breit und sorgt dafür, dass ich fröhlich summend zum Frühstück erscheine.
Meine Familie, sowie Colins, sitzen bereits am Tisch, als ich das Zimmer betrete.
«Guten Morgen», begrüße ich sie und alle murmeln mir ebenfalls eine Begrüßung zu.
Colin erhebt sich und küsst mich auf den Mund. Ich verspüre einen leichten Stich im Herzen, da ich an meinen Traum erinnert werde, aber ich lasse mir nichts anmerken und erwidere den Kuss ohne ihn misstrauisch zu machen.
«Hübsch siehst du aus», raunt er mir zu und ich muss lachen.
Als hübsch kann man mich im Moment nun wirklich nicht bezeichnen. Meine Haare habe ich zu einem unordentlichen Knoten gebunden und ich trage nur ein schlichtes weißes Top und eine helle Jeans. Geschminkt bin ich auch kaum. Aber das ist ebenfalls ein Grund dafür, dass Colin einfach der Beste ist. Er kann nicht anders, als einem Komplimente zu machen.
Wir setzen uns beide und frühstücken.
«Um zwölf Uhr beginnt die große Parade», sagt mein Vater nach einiger Zeit. «Wir treffen uns um Viertel nach Elf in der Eingangshalle und dann fahren wir zum Rathaus. Alle verstanden?»
Jeder nickt. Wir wissen alle, dass wir heute, am 45. Tag der Trennung, etwas zu feiern haben. Nur das Volk weiß es noch nicht. Dies wird der letzte Tag der Trennung für meinen Vater sein. Nächstes Jahr um diese Zeit sollen Colin und ich schon über East City regieren. Hoffentlich kommt es nicht dazu.
Nach dem Frühstück verabschieden sich Colin und seine Eltern, da sie sich Zuhause für die Feierlichkeiten fertig machen werden. Meine Eltern verschwinden ebenfalls mit jeweils zwei Angestellten, die ihnen beim Anziehen und Schminken helfen sollen. Mich begleitet erneut Tracy. Ihre blonden Haare hat sie heute zu einer aufwendigen Hochsteckfrisur verarbeitet. Sie trägt ein mintfarbenes Etuikleid und ist in dezenten Farben geschminkt.
«Wie geht es dir?», fragt sie mich freundlich.
Ich lächle. «Ganz gut. Etwas nervös, aber es hält sich in Grenzen.»
«Du musst nicht nervös sein heute. Heute musst du nur gut aussehen und dafür sorgen, dass du für das Volk sympathisch wirkst. Ich weiß, das ist leichter gesagt als getan, aber das gute Aussehen wird auf alle Fälle kein Problem sein.» Sie zwinkert mir zu und grinst. «So und jetzt setzt dich, damit wir eine anständige Frisur hinbekommen.»
Ich muss zugeben, dass Tracy gestern eigentlich keinen guten Eindruck hinterlassen hat, aber langsam gewinnt sie Sympathiepunkte. Vielleicht war gestern auch die Anwesenheit meiner Mutter schuld daran.
Wenig später sind meine Haare so schön wie nie zuvor. Tracy hat es geschafft meinen glatten Haaren, die meist einfach wir ein Vorhang auf meine Schultern fallen Volumen zu verleihen. Zum Schluss steckt sie mir noch eine blaue Blume ins Haar, die perfekt zu meinem Kleid passt.
Und dann ist es auch schon an der Zeit dieses anzuziehen.
Als ich fertig gestylt bin, ist es kurz vor Elf. Ich gehe noch auf mein Zimmer und stopfe eine Jogginghose, das Top vom Frühstück, eine graue Mütze und meine Brille, die ich so gut wie nie trage, da ich meistens stattdessen Kontaktlinsen trage, in meine kleine Handtasche. Für flache Schuhe ist leider kein Platz mehr. Egal, dann muss ich mich eben mit hohen Schuhen durchschlagen.
Langsam steigert sich meine Nervosität immer mehr. Werde ich es wirklich schaffen? Werde ich wirklich in Ikarus' Fußstapfen treten können und mein altes Leben hinter mir lassen?

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