Kapitel Sieben

44 10 5
                                    

Ideale sind wie Sterne. Man kann sie nicht erreichen, aber man kann sich an ihnen orientieren.
Carl Schurz

Zielstrebig laufe ich los. Von Menschen, die mich mit wütenden und traurigen Blicken ansehen, lasse ich mich nicht mehr beirren.
Ich gehe so, wie Savannah es mir gesagt hat und komme bald bei dem Bach an, den sie erwähnt hat. Es ist nur ein kleines Rinnsal, mit etwas Anlauf könnte ich es schaffen auf die andere Seite zu springen. Also gehe ich ein paar Schritte zurück und laufe so schnell ich kann los. Ich springe rechtzeitig ab und lande trocken auf dem Boden.
Erleichtert atme ich aus. Ich stehe wieder auf und wische die Erde, die an meiner Hose haftet, weg. Dann gehe ich erstmal geradeaus weiter. Im Moment kann ich noch keine Mauer in der Ferne erkennen. Aber das wird sich bestimmt noch ändern.

Etwa zwanzig Minuten später sehe ich sie. Ganz weit entfernt ragt die Mauer in den Himmel. Ich beschleunige meinen Schritt und überlege immer wieder, wie ich es schaffen soll, auf die andere Seite der Stadt zu gelangen.
Such dir einen Wagen, hat Savannah gesagt.
Vielleicht hat sie es auch schon mal versucht.
Das Problem ist nur, wie komme ich in einen Wagen, der mich mitnimmt? Und wer würde mich überhaupt mitnehmen? Warum bin ich nicht Zuhause geblieben?
Der Abstand von mir und der Mauer verringert sich immer mehr. Auch die Menschen werden wieder mehr. Viele sind zwar bei der Parade, aber nichtsdestotrotz wird es gefährlich werden, falls mich jemand als Graham Murphys Tochter erkennt.
Meine Schritte werden immer schneller. Ich komme mir vor wie ferngesteuert, wie Metall, das von einem Magneten angezogen wird.
Wenig später befinde ich mich unmittelbar vor den Grenzübergängen.
Es gibt zwei Schranken, die von Polizisten kontrolliert werden und dann die Fahrzeuge über die Grenze lassen. Einige Autos, LKWs und Kleintransporter warten darauf endlich auf die andere Seite zu gelangen. Ich laufe bis ans Ende der Warteschlange und klopfe an das Fenster eines dunkelblauen Cadillacs.
Der Fahrer zieht die Brauen hoch und schüttelt dann den Kopf.
Okay, so komme nicht weiter. Niemand würde mich mitnehmen. Außer vielleicht ein LKW, in dem ich mich zwischen der Ladung verstecken könnte.
Gerade als ich das denke, fährt ein weißer Kleintransporter heran und hält hinter dem Cadillac. Ich gehe zur Fahrertür und klopfe.
Der Fahrer, ein glatzköpfiger Mann von etwa vierzig Jahren, öffnet mir die Tür.
«Wie kann ich dir helfen?», fragt er, der tiefe Bass seiner Stimme dröhnt mir in den Ohren.
«Könnten Sie mich eventuell mitnehmen? Nur bis wir auf der anderen Seite sind. Bitte!»
Der Mann verzieht das Gesicht. «Nicht schon wieder. Warum kommen immer alle zu mir?»
«Bitte!», wiederhole ich.
«Los, ab mit dir, ich kann nicht jede Woche jemanden mitnehmen.» Er will die Tür schon wieder zuschlagen, doch ich halte sie auf.
«Hören Sie, ich mache das hier auch nicht zum Spaß. Bitte! Ich muss dringend hier weg.»
Der Mann seufzt. «Na gut. Los steig auf der Beifahrerseite ein.»
«Danke!» Ich gehe zur anderen Beifahrertür und steige ein.
«Du musst dich aber unter dem Sitz verstecken. Die Polizei kontrolliert die Ausweise von denjenigen die durchreisen wollen und ich denke nicht, dass du eine Berechtigung hast.»
Ich schüttele den Kopf. «Wie soll ich mich unter dem Sitz verstecken? Dazu bin ich doch viel zu groß.»
«Glaub mir, das haben schon viele vor dir geschafft. Los runter jetzt mit dir und deck dich mit der hier zu.» Er gibt mir eine dicke karierte Decke.
Zögernd gleite ich unter den Sitz. Es ist doch mehr Platz als gedacht, aber bequem kann man es auch nicht bezeichnen. Unter der Decke bekomme ich kaum Luft, aber ich vertraue diesem Mann.
«Bleib ab jetzt ganz ruhig. Wir sind dran», sagt der Mann. Seine Stimme ist gedämpft.
Ich versuche gleichmäßig zu atmen.
Leise höre ich im Hintergrund mehrere Stimmen, vermutlich die von Polizisten. Dann wird neben mir die Beifahrertür aufgerissen. Ich halte die Luft an.
«Hier ist alles okay,» ruft eine fremde Stimme und schon wird die Tür wieder zugeschlagen.
Erleichtert atme ich aus. Gott sei Dank.
Der Mann steigt wieder ein und startet den Motor. Dann fahren wir mit langsamer Geschwindigkeit einige Dutzend Meter.
«Okay, kannst wieder hochkommen», sagt er schließlich.
Ich kämpfe mich nach oben und strecke mich. «Vielen Dank, Mr...»
«Nenn mich Zack.» Er lächelt. « Und gern geschehen, Alexandra.»
Er hat mich erkannt.
Aber noch wichtiger: ich bin in West City. Ich bin Ikarus.

SeparatedWo Geschichten leben. Entdecke jetzt