Kapitel Acht

38 5 6
                                    

TEIL ZWEI
ORPHEUS UND EURYDIKE
________________________________________

Vergil erzählt uns in seinem Lehrgedicht Georgica vom Schicksal Orpheus' und dessen Frau Eurydike.
Nachdem Eurydike aufgrund eines Schlangenbisses starb und in die Unterwelt gelangte, konnte Orpheus, der als bester Sänger seiner Zeit galt, nicht lange ohne seine geliebte Frau ausharren und folgte ihr. Durch seinen schönen Gesang wollte er Hades, den Gott der Unterwelt, dazu bewegen, ihm seine Frau zurückzugeben. Hades jedoch ließ die beiden nicht ohne eine Bedingung losziehen: beide sollten die Unterwelt zu Fuß wieder verlassen, wobei Orpheus vor Eurydike gehen sollte und sich während des Weges kein einziges mal zu seiner Gattin umdrehen durfte. Jedoch ließ Orpheus sich täuschen, da er Eurydikes Schritte nach einiger Zeit nicht mehr hören konnte, und er drehte sich um und entdeckte seine Frau hinter sich. Somit verlor er Eurydike an die Unterwelt und sah sie nie wieder.

Während ich versuche die Geschichte von Orpheus und Eurydike zu verinnerlichen, um meine mündliche Note in Latein zu verbessern, muss ich unwillkürlich daran denken, dass man die Geschichte auf unsere aktuelle Situation im ehemaligen New York beziehen könnte.
Immer wieder hört man von Menschen, die versuchen aus East City zu fliehen, um zu uns nach West City zu gelangen. Wie bei Orpheus kann ein einziger Fehler den sofortigen Tod bedeuten.
Ich habe Glück, im Westen der Stadt zu wohnen, meine Vorfahren konnten aus dem Osten fliehen, ehe man die Mauern hochzog und unsere Heimatstadt für immer in zwei Teile spaltete.
Wenn ich dort drüben wohnen würde, denke ich, würde ich es wahrscheinlich auch versuchen. Das zu tun, wäre immer noch besser als nichts zu tun.
Man weiß nicht viel über die andere Seite, sie schotten sich ziemlich ab. Hier spricht man auch nur selten über East City. Gerüchte sagen, dass dort die Menschen rund um die Uhr kontrolliert werden und alles vorherbestimmt wird.
In West City ist das zum Glück nicht der Fall. Hier hat sich nicht viel verändert, seit Pascal Murphy die Kontrolle über East City übernahm.
Wehmütig hebe ich den Kopf und sehe aus dem Fenster. Draußen scheint die Sonne. Der Drang ist groß, vom Schreibtisch aufzustehen und mit meinem besten Freund nach draußen zu gehen.
Kaum habe ich diesen Gedanken zu Ende gedacht, klingelt es an der Tür.
«Olive!», höre ich meinen kleinen Bruder Lucas rufen. «Sam ist hier!»
Sam. Mein bester Freund seit dem Kindergarten, der vermutlich meine Gedanken gelesen hat, wusste, wie gerne ich Orpheus und Eurydike für den Rest des Nachmittags sich selbst überlassen würde.
«Ich komme!», brülle ich als Antwort und schiebe meinen Stuhl zurück, um aufzustehen.
Rasch laufe ich die Treppe hinab zur Haustür und stolpere auf der vorletzten Stufe, sodass ich gegen den Jackenständer falle und ihn fast umstoße. Typisch für mich.
Sam lehnt lässig im Türrahmen und grinst, während ich mich aufrapple. «Na, bist du fleißig?», fragt er mit einem Zwinkern. Wie nett von ihm, meinen Sturz gerade eben nicht zu erwähnen. Er kennt mich einfach zu gut.
«Du hast ja keine Ahnung.» Ich seufze. «Wollen wir vielleicht etwas rausgehen?», schlage ich vor.
«Gerne.» Sam nickt und ich schlüpfe in meine pinken Sneakers.
Langsam gehen wir die Straße entlang. Unsere Wohnung ist Bestandteil eines typischen Reihenhauses, die es in West City wie Sand am Meer gibt.
Wir wohnen ziemlich nahe an der Mauer, in nicht allzu weiter Entfernung ragt das gewaltige Monument in den Himmel.
«Hast du Lust auf Eis?», fragt Sam schließlich und deutet auf den kleinen blauen Eiswagen mit der Aufschrift Luigi, der mehrmals die Woche hier steht.
Ich nicke und krame Kleingeld aus meiner Hosentasche, das gerade einmal für eine Kugel Vanilleeis reicht.
Dass wir nicht viel Geld haben, hat mich bisher selten gestört, die untere Mittelschicht in West City ist groß, die Reichen sitzen alle im Osten der Stadt. Aber manchmal wünscht man sich eben mehr im Leben. Ob es ein hübsches Kleid, eine größere Wohnung oder eben eine zweite Kugel Eis ist, spielt dabei keine große Rolle.
Seit mein Vater vor drei Jahren während der Arbeit ums Leben kam, haben meine Mutter, meine beiden jüngeren Geschwister und ich noch weniger Geld zum Leben, als vorher.
Mein Vater war Grenzpolizist und hat die Lieferwägen und anderen Fahrzeuge kontrolliert, die zwischen East und West City verkehren.
In einem LKW hat sich ein Flüchtling aus East City versteckt und gerade, als mein Vater ihn entdeckte und zur Rede stellen wollte, hat er eine Pistole gezückt und meinen Vater, sowie zwei seiner Kollegen, erschossen. Ich konnte die Schüsse bis in mein Zimmer hören und wusste sofort, dass meinem Vater etwas passiert sein musste.
Voller Adrenalin rannte ich zur Mauer und konnte gerade noch sehen, wie Sanitäter die drei Toten zudeckten und sie in den Rettungswagen einluden.
Ich wusste sofort, dass es sich bei einem davon um meinen Vater handelt.
«Olive?» Sam fuchtelt mit seiner Hand vor meinem Gesicht herum und reißt mich aus meinen Erinnerungen. «Hm?», erwidere ich erschrocken. «Sorry, ich war gerade in Gedanken.»
Sam zieht seine Augenbrauen hoch, was mehrere parallele Falten auf seiner Stirn erscheinen lässt.
«Setzen wir uns?», fragt er und deutet auf eine Bank, die im Schatten eines breiten Baumes steht.
Ich nicke und folge ihm dann zur Bank, um mich hinzusetzen.
Schweigend sitzen wir da und lecken beide an unserem Eis.
Es tut gut, jemanden wie Sam zu haben, der mich so akzeptiert, wie ich bin und der nicht unnötigerweise versucht ein Gespräch mit mir anzufangen, wenn ich gar nicht daran interessiert bin.

Als die Sonne langsam beginnt den Horizont rot und orange zu färben, verabschieden wir uns und gehen getrennte Wege nach Hause.
Ich schlendere die Straße entlang und bemühe mich, nicht an den Berg Hausaufgaben zu denken, der mich erwartet, wenn ich Zuhause ankomme.
Doch plötzlich erregt ein schlaksiges, blondes Mädchen, das mir entgegenkommt, meine Aufmerksamkeit. Von Weitem erkenne ich, dass sie enorme Ähnlichkeit mit mir selbst hat, die ich nicht abstreiten kann.
Ich halte inne und sehe, dass meine Doppelgängerin es mir gleichtut.
Sie lächelt mich an, während mich die Situation so überfordert, dass ich sogar vergesse zu atmen.

________________________________________

Es ist so weit.
*trommelwirbel* das war seit fast einem halben Jahr (Wahnsinn, wie schnell die Zeit vergeht), das erste neue Kapitel von Separated. Ich hoffe, dass es euch gefällt und freue mich darauf, dass es (hoffentlich) mit der Geschichte wieder regelmäßig weitergeht.
Bis dahin, alles Liebe ❤
Eure Ric

SeparatedWo Geschichten leben. Entdecke jetzt