Kapitel Neun

22 5 0
                                    

Vermeide niemand, der dir begegnet. Du findest leicht einen, dem du hilfst, einen, der dir helfen kann.

Johann Wolfgang von Goethe

Das Mädchen starrt mich schweigend an und ich tue es ihr gleich.
Unsere Ähnlichkeit ist verblüffend, beinahe unglaublich. Nach etwa einer halben Minute bin ich wieder fähig, mich zu bewegen und mache einen Schritt auf meine Doppelgängerin zu.
Erschrocken weicht sie zurück und schnappt nach Luft.
«Ich tue dir nichts», sage ich geistreich, bevor ich genauer darüber nachdenke. Als wäre ich eine stolze Hundebesitzerin, deren bissiger Hund gerade auf ein kleines Kind losgeht: Der tut nichts.
«Ich bin Olive», ergänze ich und zwinge mich zu einem Lächeln. Freundlichkeit hat schließlich noch nie geschadet.
Als das Mädchen nicht antwortet, frage ich sie vorsichtig: «Und wer bist du?»
Sie hebt langsam den Kopf und sieht mir in die Augen. Dieselben hellblauen Augen, wie ich sie besitze.
Ich sehe, dass ihre Finger nervös zittern, weswegen ist sie wohl so aufgeregt? Wo kommt sie denn her?
Die Jogginghose, die sie trägt, ist voller Erde, als wäre sie tagelang in der Wildnis umhergeirrt.
«Alex.» Auch wenn es nur ein Wort ist, das sie sagt, bin ich froh, dass sie mir gegenüber nicht weiter schweigt.
«Kann ich dir helfen?» Besorgt sehe ich sie an, ihr Zittern verschlimmert sich, als ich wieder einen Schritt nach vorn gehe.
Kaum merklich schüttelt sie den Kopf. «Nein, nicht nötig», murmelt sie.
«Hast du denn einen Platz, wo du heute Nacht schlafen kannst?», bohre ich weiter nach.
Sie zögert, was mir Antwort genug ist. Egal, wie ich sie dazu bringe, ich werde sie heute Nacht zumindest nicht ihrem Schicksal überlassen.
«Los, komm mit!» Ich schnappe mir ihre Hand und zerre sie mit mir mit.
Störrisch reißt sie sich los. «Was soll das? Ich brauche deine Hilfe nicht!»
Sie presst die Lippen zusammen und funkelt mich wütend an.
Einige Passanten um uns herum, beginnen uns ihre Aufmerksamkeit zu schenken und mustern uns neugierig.
Da ich verhindern will, dass sie weitere Aufmerksamkeit auf sich zieht, packe ich sie wortlos am Handgelenk und ziehe sie widerwillig hinter mir her.
Nach einigen Schritten gibt sie dann doch auf und folgt mir, ohne weiter zu protestieren.
Schon nach wenigen Minuten kommen wir bei mir Zuhause an. Ich hole meinen Schlüssel heraus und sperre rasch die Tür auf, damit Lucas uns nicht sieht. Beziehungsweise Alex nicht sieht.
«Los, da rauf», zische ich und schiebe sie vor mir die Treppe nach oben.
Logischerweise muss ich über die vorletzte Stufe stolpern und dank der Schwerkraft Bekanntschaft mit unserem staubigen Laminatboden machen.
Doch ich vernehme ein leises Kichern. Immerhin kann sie darüber lachen, denke ich und führe sie in mein Zimmer.
«Setz dich.« Freundlich deute ich auf mein Bett und warte darauf, dass Alex sich sich hinsetzt, während ich den Schlüssel im Schloss umdrehe, damit Lucas nicht ungewollt hereinplatzt.
«Dann erzähl mal», sage ich und lasse mich neben sie auf mein Bett fallen. «Wer genau bist du, wo kommst du her und warum siehst du so aus, wie ich?»
Sie schluckt. Ein Muskel zuckt in ihrem Gesicht und zunächst schweigt sie weiter. Dann jedoch seufzt sie, räuspert sich und fängt an zu sprechen. «Ich bin Alexandra Murphy und komme aus East City.» Ihre blauen Augen suchen meinen Blick und gespannt wartet sie meine Reaktion ab.
«Murphy?», frage ich ungläubig nach. «Aus East City?»
Murphy hieß doch der Gründer East Citys, schießt es mir durch den Kopf. Ja, Pascal Murphy! Ist sie mit ihm verwandt?
«Ich denke mal, du kennst meinen Großvater.» Sie lächelt.
Nickend erwidere ich ihren Blick. «Ja, der sagt mir was.» Ich setze ebenfalls ein Lächeln auf. «Warum bist du hier?»
Wieder wartet sie, beißt sich auf die Unterlippe. «Wie viel weißt du über meine Heimat?»
«Nicht viel.»
Was mir Alex dann erzählt, kann ich kaum glauben, obwohl man auch hier öfters über die Lebensbedingungen in East City munkelt: in East City hat man keinerlei Freiheiten, der Beruf, der Partner, das ganze Leben wird einem vorgeschrieben. Die Gerüchte, die man sich hier in West City erzählt, scheinen also zu stimmen.
Sie berichtet mir von ihrem Leben, die schwierige Kindheit, wenn man die Enkelin des Stadtgründers ist, immer beobachtet durch die Presse und dem Rest der Stadt. Ihr Partner und künftiger Ehemann, der Colin heißt, wurde ihr bereits vor einigen Jahren zugeteilt, schon bald sollen sie heiraten und an der Spitze von East City stehen.
Ihre Flucht am heutigen Morgen ist für mich nicht verwunderlich. Sie erscheint mir zwar in gewisser Hinsicht als schüchtern, aber sich in ihrer gesellschaftlichen Position zu trauen, zu fliehen, erfordert Mut. Und davon eine ganze Menge.
Die Geschichte von Orpheus und Eurydike kommt mir wieder in den Sinn: auch Alex hat das Risiko auf sich genommen, zu verlieren, so wie es Orpheus passiert ist, doch sie hat es geschafft und konnte sich aus ihrer eigenen Unterwelt befreien.
Ich will ihr helfen, will sie ein Leben leben lassen, das sie leben möchte und das ihr nicht vorgesetzt wird, wie einem Schauspieler das Drehbuch. Und was sie dann sagt, lässt mich schwindeln: «Lass uns tauschen. 

SeparatedWo Geschichten leben. Entdecke jetzt