Kapitel Elf

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Von einem gewissen Punkt an gibt es keine Rückkehr mehr. Dieser Punkt ist zu erreichen.

Franz Kafka

Schweigen macht sich breit, als ich zusammengekauert auf der Rückbank eines schwarzen Porsches sitze und von Sicherheitspersonal aus East City zum Haus der Murphys gefahren werde.
Man hat bisher nicht viel mit mir gesprochen, sondern mir eigentlich nur Vorwürfe gemacht, wie gefährlich meine Aktion war. Aber, dass ich gar nicht die bin, für die sie mich halten, ist niemandem aufgefallen.
Der östliche Teil der Stadt sieht anders aus, als ich es aus West City kenne. Es gibt hauptsächlich Wolkenkratzer, Villen und ganz viele Designerboutiquen säumen die Straße, die wir entlang fahren.
Anfangs fand ich die ganze Situation etwas abschreckend und einschüchternd. Doch mittlerweile habe ich mich ganz gut daran gewöhnt, dass ich jetzt woanders bin.
Wir fahren schon ziemlich lange. Das mag zum einen daran liegen, dass wir uns andauernd in kleineren Staus wiederfinden und zum anderen sind die Geschwindigkeitsbegrenzungen erbärmlich.
Kaum denke ich, jetzt kann der Typ am Steuer endlich mal Gas geben, schon tritt er wieder auf die Bremse, weil es ihm ein Schild am Straßenrand verbietet.
Nach einer gefühlten Ewigkeit kommen wir bei einer riesigen Villa an. Das muss das Haus von Alex und ihrer Familie sein, denke ich, während ich noch über die Größe des Anwesens staune.
Der Mann, der auf dem Beifahrersitz gesessen hat, steigt aus und öffnet mir die Tür.
«Raus mit dir», brummt er.
Hastig steige ich aus dem Wagen und warte auf weitere Anweisungen.
Eine zierliche Frau in einem himbeerroten Kleid, das ausgesprochen gut zu ihrem hellen Hautton und den weichen braunen Locken passt, stürmt auf uns zu. Sie hat Tränen in den Augen, als sie mich sieht. «Alexandra! Da bist du ja!» Definitiv Alex' Mutter, denke ich.
«Hey», sage ich kurz angebunden und finde mich keine zwei Sekunden später in einer Umarmung wieder, die mir kaum noch Luft zum Atmen lässt.
«Warum hast du das gemacht? Was ist nur in dich gefahren, Schatz?» Sie streichelt mir liebevoll über den Kopf und drückt mich noch enger an sich.
«Es tut mir leid», bringe ich hervor und sehe sie demütig an.
«Dein Dad, Colin und ich haben uns solche Sorgen gemacht! Wir dachten schon, du wärst entführt worden!» Langsam lässt ihr fester Griff nach und ich bekomme wieder genügend Luft.
Bevor ich ihr antworten kann, hat sie mich auch schon am Handgelenk gepackt und Richtung Eingangstür gezogen. «Am besten, du gehst erst einmal hoch und ruhst dich aus.»
Ich nicke nur und lasse mich ins Haus führen. Überwältigt davon, wie teuer und kostbar alles aussieht, bleibe ich stehen.
Alex' Mutter sieht mich kurz misstrauisch an. «Sicher, dass alles in Ordnung ist?»
Ihre Worte reißen mich aus meinem Tagtraum. Bestätigend nicke ich. «Ja, alles okay. Ich geh dann mal nach oben.» Mit einer ungelenken Geste deute ich zur Treppe. Ich hoffe zumindest, dass diese Treppe zu Alex' Zimmer führt.
Alex' Mutter nickt. «Alles klar. Ruh dich etwas aus, ich hole dich dann zum Abendessen.»
Ohne ein weiteres Wort steige ich bedächtig die vielen Stufen nach oben. Aus Alex' Erzählungen weiß ich, dass sich ihr Zimmer ganz oben befindet und tatsächlich schaffe ich es, beim ersten Versuch im richtigen Zimmer zu landen.
Es ist stickig hier drinnen, anscheinend dachte während Alex' Abwesenheit niemand daran, zu lüften.
Ich öffne eines der Dachfenster und schon strömt frische Luft herein.
Tief atme ich ein. Meine Familie vermisse ich jetzt schon. Doch jetzt gibt es keine Rückkehr mehr.
Gerade, als ich mich auf das breite Bett, das ausgestattet mit einem Dutzend flauschiger Kissen und einer Patchworkdecke ist, setzen will, klopft es an der Tür.
Ein Junge mit honigblonden Haaren und ausgesprochen hübschen Gesichtszügen steckt seinen Kopf zur Tür herein. Colin.
Als er mich entdeckt, umspielt ein warmes Lächeln seine vollen Lippen und auch meine Mundwinkel heben sich.
«Alex, wo warst du?», fragt er bestürzt, während er die Tür hinter sich schließt. Dann kommt er auf mich zu, nimmt mich in den Arm und gibt mir einen Kuss auf die Stirn.
«Es tut mir so leid, Colin», sage ich sanft und sehe ihm in seine bezaubernden Augen.
«Hauptsache, du bist wieder da!» Grinsend küsst er mich erneut, diesmal auf den Mund.
Ich erwidere den Kuss und lasse mich vollkommen fallen. Es ist mein erster Kuss und das mit einer völlig unbekannten Person! So hätte ich mir das dann auch nicht vorgestellt.
Wenige Sekunden später finden wir uns auf dem Bett wieder. Die Küsse werden immer drängender und fordernder.
«Alex?», keucht Colin.
«Was?», frage ich. Mittlerweile ist es schon normal für mich, auf einen anderen Namen zu reagieren.
Ich sehe, wie Colin schluckt und um Atem ringt, ehe er antwortet. «Wir dürfen nicht weitergehen, du weißt schon.»
Eigentlich ja nicht, aber trotzdem nicke ich. «Ja, du hast Recht.» Auch ich bin außer Atem und brauche ein paar Sekunden, um wieder zu Atem zu kommen.
«Ich liebe dich, Alex.» Colin blickt mir tief in die Augen und küsst mich noch einmal sanft auf den Mund.
«Ich dich auch», flüstere ich.
Innerlich bete ich, dass Colin nie merkt, dass ich nicht Alex bin. Ich hoffe, dass ich mich so normal wie möglich verhalte, doch gerade, als mir diese Gedanken durch den Kopf gehen, spricht Colin das genaue Gegenteil aus: «Ich weiß, dass du nicht Alexandra bist.»

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⏰ Letzte Aktualisierung: Apr 19, 2016 ⏰

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