Kapitel Fünf

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Flucht ist erlaubt, wenn man Tyrannen flieht.
Friedrich Schiller

Aufgeteilt in zwei Limousinen fahren meine und Colins Familie zum Rathaus. In der einen sitzen meine Eltern gemeinsam mit Colins und in der anderen Colin, seine Schwester Kate und ich.
Schweigend fahren wir dahin. Colin sieht stumm aus dem Fenster und Kate ist in ihr Handy vertieft. Ich selbst habe auch keine Lust eine Konversation zu starten, da ich viel zu nervös bin und womöglich nicht mehr aufhören könnte zu reden, wenn ich einmal angefangen habe.
Nach etwa zwanzig Minuten sind wir da. Obwohl dafür gesorgt wird, dass uns der Weg freigeräumt wird, dauert es seine Zeit, bis sich die Wagen durch den Verkehr schlängeln.
Kate lässt ihr Handy in ihrer Handtasche verschwinden und steigt als erste aus, als man uns die Tür öffnet. Ich folge ihr und zuletzt verlässt Colin die Limousine.
Er lächelt mich aufmunternd an und greift nach meiner Hand. «Du schaffst das. Du brauchst nicht nervös sein, ich bin doch da.»
Wenn er wüsste, denke ich. Wenn er wüsste, dass ich abhauen will.
«Alexandra, Colin, kommt ihr?», ruft meine Mutter und winkt.
Ich nicke und lasse mich von Colin mitziehen.
Wir betreten das Rathaus durch den Hintereingang. Vorne sind einfach schon zu viele Leute. Leute, denen man nicht trauen kann. Denn natürlich ist East City trotz der Trennung von der West City nicht durch und durch friedlich und harmonisch. Es gibt immer Leute, die gegen die politische Führung sind, die Anschläge ausüben.
Wir müssen zwei Stockwerke nach oben gehen und kommen dann in einem breiten Korridor an. Mein Vater geht voraus und wir folgen ihm den Flur entlang, bis er vor einer Tür, die aus hellem Holz gefertigt ist, stehen bleibt.
«Sind alle so weit?», fragt er und drückt die Klinke nach unten, als er von jedem ein «ja» als Antwort erhalten hat.
Durch diese Tür gelangen wir in ein geräumiges Zimmer, das leersteht. Nur ein paar Vorhänge befinden sich vor den Fenstern.
Ich war schon oft in diesem Raum. Zwei Mal im Jahr. Dreiunddreißig mal in meinem Leben. Heute ist es das vierunddreißigste Mal.
Um Punkt zwölf werden wir alle auf den Balkon gehen und mein Vater wird eine kurze Rede halten, die den Beginn der großen Parade darstellt.
Es ist zehn vor zwölf. Und ich habe einen Plan. Wenn die Rede vorbei ist, die Parade begonnen hat und meine Familienmitglieder und ich auf dem Balkon sind, um zuzusehen, werde ich mich entschuldigen, um auf die Toilette zu gehen. Aber tatsächlich werde ich mir eine Fluchtmöglichkeit suchen. Wie genau ich fliehen kann, steht in den Sternen, da alle Eingänge überwacht werden und sich an allen Ecken und Enden Sicherheitskräfte befinden. Aber es gibt mit Sicherheit einen Weg, da bin ich mir sicher.
«Alex? Hallo? Erde an Alex, bitte melden.» Colin steht unmittelbar vor mir und spricht mich direkt an, was ich erst jetzt bemerke. Peinlich.
«Was? Oh, tut mir leid. Ich bin etwas müde noch und die Nervosität...», sage ich seufzend.
Colin sieht mich ernst an. «Soll ich dir was zu trinken holen? Nicht dass du noch umkippst, du bist weiß wie die Wand.»
«Oh nein, schon okay», winke ich ab. «Wirklich. Es ist alles in Ordnung, mach dir keine Sorgen.» Ich zwinge mich zu einem Lächeln, aber ich bin mir sicher, dass es nicht gerade authentisch wirkt.
«Na gut, wenn du meinst.» Colins Mundwinkel heben sich ebenfalls kurz und zaubern Grübchen in seine Wangen. Er sieht einfach nur hinreißend aus.
«Also liebe Familie, in wenigen Minuten werden wir auf den Balkon hinausgehen und uns der Öffentlichkeit zeigen. Ich weiß, dass ihr alle wisst, was gutes Benehmen ist und ich will, dass sich jeder von seiner besten Seite zeigt. Schließlich ist das mein letzter Tag der Trennung als Bürgermeister. Ich will es genießen.» Mein Vater ist sichtlich traurig darüber, dass er nächstes Jahr nicht mehr East City regieren wird, sondern ich und Colin an seiner Stelle sein werden.
«Bereit?», fragt er in die Runde.
«Bereit», entgegen wir ihm im Chor.
Er lächelt und zieht dann die Vorhänge zurück. Noch ein kurzer Blick über die Schulter, den er uns zuwirft und dann öffnet er die großen Türflügel, die zum Balkon hinausführen.
Das Volk jubelt und applaudiert seinem Bürgermeister.
Mein Vater sieht glücklich aus, wie er seinen Untertanen zuwinkt und lacht. Er mag seinen Job, er ist perfekt dafür. Colin wäre auch perfekt, aber ich?
«Vielen Dank», spricht er in das fest montierte Mikrofon an der Brüstung des Balkons. «Als euer Bürgermeister bedanke ich mich bei euch dafür, dass ihr auch nach all den Jahren immer noch zu mir haltet und mich unterstützt. Aber bevor ich meine Rede beginne, möchte ich erst einmal meine Familie zu mir holen.»
Das ist unser Einsatz. Meine Mutter tritt als Erste auf den Balkon und gibt meinem Vater einen kurzen Kuss für die Kameras. Dann folgen Colin und ich Hand in Hand. Wir stellen uns auf die linke Seite des Balkons und winken. Zuletzt folgen noch Colins Eltern, die sich gemeinsam mit Kate auf die rechte Seite stellen.
Dann beginnt mein Vater mit der Rede. Obwohl es im Grunde genommen jedes Jahr die gleichen Themen sind, die in der Rede enthalten sind, ist sie doch jedes Jahr etwas anders.
«Liebe Bürgerinnen und Bürger von East City. Ich bedanke mich, dass ihr alle so zahlreich erschienen seid und mir heute wieder einmal eure Ehre erweist. Zuerst möchte ich zurückblicken. Zurückblicken in die noch nicht allzu ferne Vergangenheit, als East und West City noch eine gemeinsame Stadt bildeten. New York City. Ihr wisst, wie es damals abgelaufen ist. Die Regierung hat sich immer mehr in dubiose Geschäfte verstrickt, ein dritter Weltkrieg stand kurz bevor. Mein Vater, Pascal Murphy, wollte und konnte das nicht zulassen. Er wollte seine Heimat, den Osten New Yorks, abgrenzen. Abgrenzen von den Machenschaften des Staates. Und das hat er auch geschafft. Mühsam hat er immer mehr Leute mobilisiert, die ihm halfen. Die ihn unterstützten, gegen die Regierung anzukämpfen. Jeder einzelne von seinen Helfern hat dazu beigetragen, dass wir heute hier stehen können und stolz auf meinen Vater sein können, der so hart dafür gearbeitet hat, dass East City existiert. Er hat sich für uns geopfert, hat sein Leben dafür gegeben, dass es uns heute gut geht. Und deshalb möchte ich, dass wir ihm nun mit einer Schweigeminute gedenken.»
Ich bin berührt von seinen Worten, aber man kann nicht behaupten, dass mein Großvater sich für East City geopfert hätte. Natürlich hat er dafür gesorgt, dass die Stadt so ist wie sie ist, aber geopfert ist in meinen Augen der falsche Ausdruck. Immerhin ist er nicht gestorben, weil er seine Stadt beschützen wollte, sondern weil er Krebs hatte. Jawohl, er hat es vielleicht geschafft die Politik zu ändern, aber die schlimmste aller Krankheiten konnte auch er nicht aufhalten und so nistete sie sich überall in seinem Körper ein, bis er schließlich vor sieben Jahren den letzten Atemzug tat.
Anscheinend ist die eine Minute um, denn mein Vater beugt sich nun wieder über das Mikrofon. «Vielen Dank. Ich möchte euch nun auch nicht länger auf die Folter spannen und die große Parade feierlich eröffnen. Ich wünsche euch im Namen meiner Familie, dass ihr sie genießen könnt und noch einen schönen Tag.»
Applaus bricht unter den Leuten aus. Wir anderen auf dem Balkon klatschen ebenfalls und dann gehen wir wieder ins Innere des Gebäudes, bis sich die Menschen unten zurückgezogen haben und die Parade beginnen kann.
Langsam bricht bei mir der Angstschweiß aus. Bald ist es so weit.
Man merkt es den Leuten unten nicht an, aber das liegt wahrscheinlich daran, dass nur die reichen Bewohner heute ihr Haus verlassen haben. Es gibt nur zwei Arten von Menschen in East City. Bettelarm oder so reich, dass man ohne mit der Wimper zu zucken über eine Million Dollar für ein einziges Kleidungsstück ausgeben könnte.
Von der Überwachung bekommt man kaum etwas mit. Die armen Leute sind mehr damit beschäftigt nicht zu verhungern, als darauf zu achten wie sie ihr Leben führen. Die Reichen wissen natürlich, wie man sich gekonnt in Szene setzt, um immer ein gutes Licht auf andere zu werfen.
Aber die Überwachung ist mehr, als dass das ganze Leben durchgeplant ist. Die Regierung merkt sofort, wenn jemand ein Verbrechen begangen hat, wenn jemand auch nur eine Kleinigkeit falsch gemacht hat. Und das setzt die Menschen unter Druck.
Aber zum Glück hat das Leben manchmal doch noch ein Ass im Ärmel, um der Regierung Paroli bieten zu können. Unvorhersehbare Zwischenfälle, wie Krankheiten oder Unfälle passieren trotzdem noch häufig. Den Leuten geht es entweder sehr gut oder total schlecht. Es gibt keine Mittelschicht.
Wie es in West City ist, weiß man nicht genau. Ab und zu sickern Gerüchte durch, dass es dort viel schöner ist, es keine Überwachung gibt und die Leute glücklicher sind. Natürlich gab es Fluchtversuche. Natürlich gab es dabei Tote. Aber warum sollte man freiwillig hier bleiben, wenn man zwei bessere Perspektiven hat? Ein Leben in einer anderen Welt, in West City, oder den Tod, der mit Sicherheit auch besser sein würde, als hier zu bleiben. Für manche Menschen sind das wirklich Dinge, über die sie tagtäglich nachdenken. Mir ergeht es nicht anders, aber bisher habe ich mich nicht getraut. Was sollte man von mir denken, von der zukünftigen Bürgermeisterin? Aber heute ist es so weit. Heute werde ich fliehen. Heute werde ich Ikarus sein.

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